WM 2010: DFB-Elf:Aufstand gegen eine alte Turnierregel

Obwohl nie zuvor eine deutsche Nationalmannschaft in so unfertigem Zustand zu einem Turnier gereist ist, hat Bundestrainer Löw die Stammformation gefunden. Offen ist, wie lang sie den Härten einer WM standhält.

Christof Kneer

Vor zwei, drei Wochen hat sich die Öffentlichkeit das ungefähr so vorgestellt: Im ersten WM-Spiel gegen Australien würde - zum Beispiel - Serdar Tasci verteidigen. Er würde womöglich bei einem Gegentor nicht sehr günstig aussehen, worauf im zweiten Spiel Jerome Boateng seinen Posten übernähme. Der Platz im linken Mittelfeld fiele irgendwann Marcell Jansen zu, Podolski würde dort nämlich weichen müssen, entweder weil er zu schlecht wäre, oder weil er so überzeugt hätte, dass er gleich den Platz in der Sturmmitte abbekäme, den dann Miroslav Klose räumen müsste. Drei weitere Konstanten gab es in den Horrorspekulationen, an denen sich die Öffentlichkeit in den Tagen der WM-Vorbereitung weidete: Natürlich würde Lahm ständig von der linken auf die rechte Seite wechseln müssen, in jedem Spiel mindestens siebenmal. Natürlich würde Trainer Löw ständig das System ändern müssen, mit einem Stürmer, mit zwei Stürmern, mit drei. Und sowieso würde Manuel Neuer bald ein so entsetzlicher Fehler unterlaufen, dass bestimmt auch der Platz im Tor neu zu verhandeln wäre.

WM 2010 -  Deutschland - Australien

In der Stammformation, die im DFB-Wortschatz aber nicht so heißt: Miroslav Klose (links), Lukas Podolski und Sami Khedira.

(Foto: dpa)

"Ich denke nicht, dass sich gegen Serbien viel verändern wird", sagte Löws Assistent Hansi Flick an diesem Mittwoch im DFB-Quartier in Südafrika. Er hätte auch sagen können: Tor Neuer, Abwehr Lahm, Mertesacker, Friedrich, Badstuber, auf der Doppelsechs Schweinsteiger/Khedira, davor Müller, Özil, Podolski, im Sturm Klose.

Lustige Halbsätze

Schön waren sie, die Spekulationen, aber die Wahrheit ist plötzlich auf lobenswerte Weise langweilig. Gerade einmal 90 WM-Minuten hat die DFB-Elf in den Beinen, gegen ein australisches Team, das so wenig Gegenwehr leistete, als sei es für ein Freundschaftsspiel der Egidius-Braun-Stiftung engagiert worden - und doch liegt bereits ein Anfangsverdacht auf Stammelf vor. Die DFB-Coaches bestätigen das nicht so gern, weil ihr junges Team vor allem über Lust und Laune funktioniert und sie allen, die zurzeit nicht zur ersten Elf zählen, weder Lust noch Laune nehmen wollen.

In diesem Zwiespalt kommen lustige Halbsätze zustande wie jener, den Flick am Mittwoch hören ließ: "Die erste Elf oder besser: die Formation, die gegen Australien aufgelaufen ist..." Der Satz ging noch weiter, aber das Entscheidende hatte man verstanden. Die Formation, die gegen Australien aufgelaufen ist, ist höchstwahrscheinlich die Formation, die auch gegen Serbien auflaufen wird.

Baustellen vorerst geschlossen

Was die Deutschen derzeit proben, ist nichts weniger als der Aufstand gegen eine gute, alte Turnierregel. "Eine Stammformation findet sich meist erst im Laufe eines Turniers", das hatte auch Joachim Löw zuletzt immer wieder betont. Gerade in Deutschland zählt es zum gesicherten Anekdotenschatz, dass der Spieler Beckenbauer bei der WM 1974 nach dem 0:1 gegen die DDR Umbauten im Team befahl, worauf Trainer Schön artig Folge leistete. 16 Jahre später ließ derselbe Beckenbauer, inzwischen Teamchef, seine Kreativspieler Häßler, Littbarski, Thon und Bein munter rein und raus rotieren, auch im Jahr 2002 war die Startformation des Teamchefs Völler bald nur noch Turniergeschichte.

WM 2010 - Deutschland - Australien

Der aufgepäppelte Miroslav Klose (links) und der freche Offensivkollege Thomas Müller.

(Foto: dpa)

Auch Joachim Löw glaubt an die Theorie von der allmählichen Verfertigung einer Mannschaft beim Spielen, und zuletzt hat diese Theorie speziell ihm selbst einigen Trost geboten. Er hat ja genau gewusst, dass nie zuvor eine deutsche Mannschaft in so unfertigem Zustand zu einem Turnier gereist ist. Er wollte ein bisschen auf Zeit spielen, mal dies, mal das probieren, mal hier, mal dort bauen - zu seinem eigenen Erstaunen muss Löw jetzt erkennen, dass die Arbeiten am Team weiter fortgeschritten sind als gedacht. "Die Baustellen, von denen immer zu lesen war, sind weitgehend geschlossen", hat Assistent Flick am Mittwoch nicht ohne Süffisanz angemerkt.

Löws vorläufige Stammformation ist zunächst einmal ein Kompliment für Löw selbst. Aus teils erwarteten, teils unerwarteten Umständen hat er in kurzer Zeit die richtigen Schlüsse gezogen. Mit der Sturheit einer Bergziege hat er Klose und Podolski vertraut, und er hat sie in die richtige Umgebung eingebettet. Er weiß, dass der begrenzt deckungsfreudige Podolski einen eigenen Manndecker hinter sich braucht, weshalb er ihm den deckungsfreudigen Westermann ins Kreuz stellen wollte. Als Westermann verletzt ausfiel, baute er den deckungsfreudigen Badstuber ein, mit dem positiven Nebeneffekt, dass er nun über eine Bayern-Achse verfügt, die das Spiel seiner Rasselbande stabilisieren hilft.

EM 2008 als Warnung

Ob ihm die Benennung einer Stammelf nun leichter falle, wurde Löw nach dem 4:0 gegen Australien gefragt. "Nein, noch viel schwerer", hat er mehr gerufen als gesagt und auf die "tollen Optionen in der Offensive" verwiesen, namentlich auf Cacau, Marin, Trochowski und Gomez. Speziell Cacau sei "durchaus eine Überlegung für die Startelf gewesen"; aber natürlich kann er ihm zuliebe nicht den mühsam aufgepäppelten Klose rausnehmen, genauso wenig wie er den frechen Müller opfern will, nur um dem geschätzten Trochowski Auslauf zu geben.

Aber Löw ahnt, dass er da nichts überstürzen muss. Er genießt den Moment, er freut sich über den vor der Zeit gefundenen Stamm, aber er geht nicht davon aus, dass dieser Stamm die WM überleben wird. Der Darwinismus eines Turniers wird auch seine Elf durcheinanderschütteln, Bastian Schweinsteigers infektbedingte Trainingspause gilt ihm als klares Zeichen. Auch die vergangene EM dient Löw als deutliche Warnung: Da wurde sein Linksverteidiger Jansen im zweiten Vorrundenspiel von den Kroaten derart auseinandergespielt, dass Lahm in der Halbzeit tatsächlich die Seiten wechseln musste. Also will der Bundestrainer seinen Kader so bei Laune und unter Spannung halten, dass er auch im Falle von Sperren, Verletzungen oder plötzlicher Überforderung funktioniert.

Immerhin weiß Löw seit der WM 2006, wie man auch die Kaderspieler aus den hinteren Reihen mit einem Einsatz belohnen kann. Man müsste nur das Spiel um Platz drei erreichen.

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