WM 2010:Das Reservat ist eröffnet!

"Fußball ist Krieg": Vier Wochen Fußball-Weltmeisterschaften sind auch vier Wochen Zeit, die primitiven Triebe des Menschen auf die ungefährlichste Art auszuleben.

Ian Buruma

Die Fahnen wehen schon, von Holland bis Argentinien, von Kamerun bis Japan. Bald werden die Trommeln schlagen und die Schlachtrufe ertönen. Es ist wieder WM.

WM 2010 - Feature
(Foto: dpa)

Rinus Michels hatte den Spitznamen "General". Er war Trainer der holländischen Mannschaft, die 1974 im Finale gegen Deutschland verlor. Von ihm stammt der berühmte Satz: "Fußball ist Krieg." Als die Holländer 1988 Revanche nahmen und Deutschland schlugen, um anschließend Europameister zu werden, tanzten mehr Menschen auf den Straßen des Landes als an jenem Tag im Mai 1945, an dem der wirkliche Krieg endete.

Einmal, 1969, führte ein Fußballspiel zwischen Honduras und El Salvador tatsächlich zu einem militärischen Konflikt, der als "Fußballkrieg" in die Geschichte einging. Zwischen beiden Ländern bestanden schon vorher Spannungen. Aber dann wurden Fans der honduranischen Mannschaft angegriffen, und - schlimmer noch - ihre Hymne wurde beleidigt sowie die Fahne besudelt.

Geschwindigkeit und kollektive Aggression

Natürlich sind Fußballkriege selten. Doch die Vorstellung, dass internationale Sportwettkämpfe unweigerlich zu warmherziger Brüderlichkeit inspirieren - die Idee des Barons de Coubertin, des Gründers der modernen Olympischen Spiele -, ist eine romantische Fiktion. Die Gewalttätigkeit britischer Hooligans etwa spiegelt eine gewisse Kriegsnostalgie wieder. Das Leben in friedlichen Zeiten kann langweilig sein, und Großbritanniens Glorie scheint weit in der Vergangenheit zu liegen. Fußball ist da eine Möglichkeit, den Thrill des Kampfes zu erleben, ohne viel mehr als ein paar gebrochene Knochen zu riskieren.

Selbst wenn Fußball nicht zu tatsächlichem Blutvergießen führt, fördert er starke Gefühle - primitive und stammesbezogene. Sie beschwören jene Tage herauf, als Krieger Gesichtsbemalung anlegten, einen Kriegstanz aufführten und dabei brüllten wie die Affen. Die Natur des Spiels ruft dazu auf: die Geschwindigkeit, die kollektive Aggression. Tennis bringt keinen Furor nationalen Ausmaßes hervor.

Nicht einmal Boxen tut dies, von sehr seltenen Ausnahmen abgesehen, zum Beispiel, als Joe Louis, der "Braune Bomber", 1938 den Favoriten aus Nazideutschland, Max Schmeling, besiegte. Im Grunde handelt es sich bei Tennis und Boxen um Formen des Kampfes zwischen zwei Individuen, und nicht zwischen zwei Stämmen.

Arthur Koestler hatte recht, als er sagte, es gebe Nationalismus, und es gebe Fußballnationalismus - und letzterer rufe tiefere Gefühle hervor. Koestler, in Budapest geboren, aber stolz auf seinen britischen Pass, blieb sein Leben lang ungarischer Fußballnationalist.

Der Fußball als Ventil

Fußball hilft, wenn man traditionelle Feinde und alte Wunden hat, die geheilt werden müssen; und sei es nur symbolisch. Amerikaner können das schwer nachvollziehen. Sie sind weder besonders gute Fußballer noch mit großem, historisch bedingtem Hass gestraft. Wie sollten sie das Glücksgefühl der Holländer verstehen, als diese 1988 die Deutschen schlugen, oder das Koreas, wenn es Japan besiegt.

Das vielleicht beste Beispiel für sportlichen Nationalismus war kein Fußballspiel, sondern das Finale der Eishockey-WM 1969, als die Tschechoslowakei die Sowjetunion besiegte; nur ein Jahr nachdem sowjetische Panzer durch Prag gerollt waren. Die tschechischen Spieler zeigten mit ihren Hockeyschlägern auf die Russen, als wären es Gewehre, und zu Hause provozierte ihr Sieg antisowjetische Ausschreitungen.

Es ist also klar: Egal was Coubertin sich erhofft haben mag - Weltoffenheit und Brüderlichkeit liegen dem Menschen naturgemäß ferner als die rohen Emotionen des Stammes. Der Stamm, das kann ein Klub, ein Clan, eine Nation sein. Vor dem Krieg hatten Fußballklubs häufig eine ethnische oder religiöse Komponente: Tottenham Hotspurs in London war "jüdisch", Arsenal "irisch". Überreste davon bleiben: Ajax Amsterdam wird von Gegnern aus der Provinz noch immer als "jüdischer Verein" verspottet. Und die beiden Glasgower Klubs, Celtic und Rangers, sind nach wie vor klar voneinander abgegrenzt: Celtic ist der katholische Klub, Rangers der protestantische.

Das, was zusammenschweißt

Doch bedarf es nicht zwingend einer gemeinsamen Rasse oder Religion. Zu den französischen Fußballhelden, die 1998 die WM gewannen, gehörten Männer afrikanischer Herkunft, und sie waren stolz darauf. Die meisten erfolgreichen modernen Fußballvereine sind so bunt gemischt wie die Figuren in der Benetton-Werbung; ihre Trainer und Spieler stammen aus der ganzen Welt, was aber der Begeisterung der Fans am Ort nicht zu schaden scheint. In einigen Ländern ist der Fußball das Einzige, was ansonsten völlig verschiedene Menschen zusammenschweißt: Schiiten und Sunniten im Irak, Muslime und Christen im Sudan.

Natürlich sind die meisten vernünftigen Menschen ein wenig wie Coubertin. Stammesgefühle sind peinlich - und eine Gefahr, wenn man ihnen freien Lauf lässt. Nach dem Krieg war der Ausdruck nationalistischer Gefühle in Europa praktisch tabu (nicht zuletzt in Deutschland). Wir waren alle gute Europäer geworden, Nationalismus war etwas für Rassisten. Und doch konnten diese Gefühle nicht einfach unterdrückt werden; Koestler hatte ja recht. Sie brauchten ein Ventil, und der Fußball bot dieses.

Das Stadion wurde zu einer Art Reservat, in dem die Tabus des Stammesrauschs und selbst des Rassengegensatzes gelockert werden konnten, wenn auch nur bis zu einem gewissen Punkt: Als die Verhöhnung von Ajax-Fans ("dreckige Juden") in Gewalt ausartete, manchmal begleitet von einem kollektiven Zischen, das den Klang ausströmenden Gases nachahmte, entschieden sich die Behörden zum Eingreifen. Einige Spiele mussten unter Ausschluss der gegnerischen Fans ausgetragen werden.

Doch die Tatsache, dass der Sport primitive Gefühle freisetzen kann, ist kein Grund, ihn zu verdammen. Da man derartige Gefühle nicht einfach wegwünschen kann, ist es besser, ihren ritualisierten Ausdruck zu gestatten; ganz so, wie die Angst vor Tod, Gewalt und Verwesung ihren Ausdruck in der Religion oder im Stierkampf findet. Auch wenn Fußballspiele Gewalt provoziert haben und einmal sogar einen Krieg, erfüllen sie den Zweck, unsere primitiveren Impulse im Zaum zu halten, indem sie sie auf Sport umlenken. Bloß auf Sport. Also möge das beste Team gewinnen. Holland!

Der Niederländer Ian Buruma, 58, ist Professor für Demokratie und Menschenrechte am Bard College in der Nähe von New York. ©Project Syndicate. Übersetzung: Jan Doolan.

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