WM-Achtelfinale: USA - Ghana:Ist ja gar nicht so langweilig

Fußball galt unter Amerikanern lange als Sport der weißen Männer mit weißem Hemdkragen. Doch die starke WM des US-Teams hat eine neue Stimmung erzeugt. Ein Besuch bei in Deutschland stationierten Soldaten während des 1:2 gegen Ghana.

Jürgen Schmieder, Grafenwöhr

Truppenübungsplatz Grafenwöhr, vier Stunden vor dem Spiel der amerikanischen Natioanalelf gegen Ghana. Eine amerikanische Fahne weht über dem Tor, im Wachhäuschen steht kein Soldat, sondern der Mitarbeiter einer deutschen Sicherheitsfirma. Er lacht. Seine Kollegen kontrollieren die Pässe, sie halten einen Spiegel unter das Auto. Danach gelten amerikanische Verkehrsregeln, die Qualität der Straßen ist amerikanisch, die Benzinpreise sind amerikanisch. Man sieht den Wegweiser zu einer Grundschule, ein Kino, in dem "Karate Kid" und "Sex and the City 2" läuft, und den Hinweis darauf, dass morgen Fallschirmspringen angeboten wird.

US-Truppenübungsplatz Grafenwöhr - Ausbau statt Abzug

Üblicherweise zeigen die Fernseher am Militärstützpunkt Grafenwöhr Baseball, die amerikanischste aller Sportarten. Fußball schauen die Soldaten hier aus puren Patriotismus.

(Foto: ag.dpa)

Von Vorfreude auf das Achtelfinale der Fußball-WM ist zunächst wenig zu sehen. Die Menschen sprechen über das Wetter, über Politik, über Baseball. Fußball, das ist in den Vereinigten Staaten der Sport der Frauen, der weißen Männer mit weißem Hemdkragen und Menschen, die der New Yorker Avantgarde angehören. Die in Grafenwöhr und Umgebung stationierten Soldaten begeistern sich eher für Sportübertragungen aus der Heimat. Football im Herbst, Basketball und Eishockey im Winter und Frühjahr, Baseball im Sommer. Vor wenigen Tagen hat der Vuvuzela-Lärm vom Nachbargrundstück einen US-Soldaten im nur ein paar Kilometer entfernten Weiden ausrasten lassen, mit einer Axt bewaffnet lief er zu seinen Nachbarn und forderte ein Ende der Tröterei.

Nun hat die amerikanische Nationalelf mit teils mitreißendem Fußball die K.o.-Runde erreicht - und der amerikanische Patriotismus verpflichtet die Menschen, die Jungs in Südafrika anzufeuern, auch wenn ihnen dieser Sport immer noch irgendwie suspekt ist. "Natürlich schauen wir uns das an, wenn unsere Jungs spielen", sagt einer, auf dessen Uniform unzählige Auszeichnungen zu sehen sind. "Ganz Amerika wird zuschauen - und wahrscheinlich werden sie deshalb verlieren." Sofort unterbricht ihn ein anderer mit weniger Abzeichen auf der Jacke: "Wir gewinnen heute, wir alle sind optimistisch." Dann unterhalten sich die beiden über Baseball. Die Detroit Tigers würden eine miserable Saison spielen.

Zwölf Bildschirme, fast alle für Baseball

"Wir sind eine Sport-Nation mit einer Gewinn-Alles-oder-Nichts-Mentalität", sagte Nationaltorhüter Tim Howard im Vorfeld des Achtelfinals. "Wenn Du nichts gewinnst, interessiert es auch keinen." Die ersten drei Spiele wurden im Einkaufszentrum übertragen, auf einem kleinen Fernseher. Jetzt, im Achtelfinale, soll die Veranstaltung größer werden.

Abendessen im Einkaufszentrum der military community, 90 Minuten vor dem Spiel. Es gibt ein Schnellrestaurant mit mexikanischem Essen, ein Schnellrestaurant mit italienischem Essen, ein Schnellrestaurant mit asiatischem Essen - und ein Schnellrestaurant mit amerikanischem Essen. Auf den zwölf Bildschirmen, die an der Decke befestigt sind, ist ausschließlich Sport zu sehen. Baseball, die amerikanischste aller Sportarten. Minnesota Twins gegen die New York Mets. St. Louis Cardinals gegen die Kansas City Royals. Die Menschen blicken nur auf, wenn ein Punkt erzielt wird. Hin und wieder sagt einer: "Yeah!"

Wenn man mit jemandem über Fußball sprechen möchte, dann verläuft das Gespräch meist so: "In der Vorrunde waren die Jungs besser als England, sie können stolz sein. Und heute gewinnen sie auch." Taktische Analysen gibt es nicht, 4-3-3 ist für die meisten eine konservative Verteidigungsstrategie beim Football. Auch die Aufstellung wird nicht diskutiert: "Coach Bradley wird die besten Jungs aufs Feld schicken", sagen die meisten. Sollte Joachim Löw das lesen, würden ihm wohl Tränen kommen.

Stehende Ovationen

Eine spontane Umfrage ergibt, dass sechs von zehn Menschen wissen, dass es im Fußball Abseits gibt. Erklären kann es keiner. "Ich kann auch nicht jede Football-Regel erklären", sagt einer, auf dessen T-Shirt eine amerikanische Flagge zu sehen ist. "Aber wenn ich die Spielsituation sehe, dann weiß ich, worum es geht. So ist das auch mit Abseits im Fußball."

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Als Landon Donovan (links, mit Jozy Altidore) den Elfmeter für die USA zum Anschlusstreffer verwandelt, bricht in Grafenwöhr großer Jubel aus. "Diesem Druck muss erst einmal jemand Stand halten und so einen Elfmeter verwandeln, wenn ganz Amerika zusieht", sagt einer.

(Foto: afp)

Sechs Minuten nach Spielbeginn. Kevin-Prince Boateng hat gerade das 1:0 für Ghana erzielt. Entsetzen? Verzweiflung? Wut? Nichts dergleichen, nicht einmal eine längere Diskussion unter den mehr als 100 Anwesenden, ob der Schuss nicht etwa zu halten gewesen wäre. "Genug Zeit, das aufzuholen", ruft einer. "Auf geht's, Jungs", brüllt ein anderer. Und als einer erwähnt, dass die Nationalelf in der Vorrunde ebenfalls zwei Mal einen Rückstand aufholte, sind wieder alle gut gelaunt.

Wer sich auch nur einmal wunderte, warum sich kein amerikanischer Spieler nach zwei zu Unrecht aberkannten Toren in der Vorrunde über den Schiedsrichter beschwerten, warum die Mannschaft Rückstände egalisierte und die Qualifikation fürs Achtelfinale in letzter Minute schaffte, der bekommt hier die Antwort. Amerikanische Flaggen werden geschwenkt, die Menschen prosten sich mit amerikanischem und deutschem Bier zu, hin und wieder beißt einer in einen Hot Dog oder eine Bratwurstsemmel. Aufgeben oder hadern? Niemals.

Als der amerikanische Stürmer Clint Dempsey in der ersten Halbzeit den Ball an der Mittellinie bekommt und loszulaufen beginnt, da johlen die Menschen. Es gefällt den amerikanischen Soldaten, wenn da einer im vollen Tempo die Linie lang läuft. Was ihnen noch gefällt, sind fliegende Torhüter, gelungene Flankenwechsel und Grätschen diesseits und jenseits der Legalität.

Gar nicht so langweilig wie gedacht

Manch einer wundert sich, warum das Tackling des Ghanaers Jonathan Mensah an Clint Dempsey denn noch ein Foul gewesen sein soll. Als Landon Donovan den Strafstoß verwandelt, jubeln die Soldaten, als wäre es der entscheidende Strafstoß im WM-Finale gewesen. "Warum nicht", sagt einer, "diesem Druck muss erst einmal jemand Stand halten und so einen Elfmeter verwandeln, wenn ganz Amerika zusieht."

Beginn der Verlängerung. Nicht jeder weiß, dass nun zwei Mal 15 Minuten gespielt werden, um einen Sieger zu ermitteln - die meisten haben damit gerechnet, dass es gleich Elfmeterschießen gilt. "Wow, das ist ein intensives Spiel", sagt einer. "Und spannend. Ich dachte immer, Fußball wäre ein wenig langweilig, aber das ist es überhaupt nicht."

Dann schießt Asamoah Gyan das 2:1, die Amerikaner versuchen zwar, den Ausgleich zu erzielen, doch sie sind am Ende ihrer Kräfte. Sie verlieren das Spiel und scheiden aus. Als die Spieler vom Platz gehen, stehen die Soldaten auf und applaudieren, als könnten die Akteure es hören. "Sie werden es spüren", sagt einer. "Diese Mannschaft hat einen großes Turnier gespielt."

Der Applaus dauert drei Minuten - und auf die Frage, ob die Soldaten jetzt nicht enttäuscht seien, sagt einer: "Wir sind eben nicht die talentiertesten Fußballer. Das sind junge Kerle, die sich in Südafrika den Arsch aufgerissen haben - und jetzt haben sie eben verloren. Sie haben einen großen Kampf geliefert, sie haben nie aufgegeben und sie haben sich als Mannschaft präsentiert. Sie können erhobenen Hauptes nach Hause fahren, ganz Amerika kann trotz des Ausscheidens stolz auf diese Jungs sein."

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