Wladimir Klitschko verliert WM-Titel:Gelee bezwingt Stahlhammer 

Boxen: Wladimir Klitschko - Tyson Fury

Geschlagener Champion: Nach neuneinhalb Jahren verlor Wladimir Klitschko erstmals wieder einen Boxkampf.

(Foto: dpa)

Er blutete heftig, wirkte völlig ratlos - und verlor verdient: Der Box-Champion aus der Ukraine ist nach neuneinhalb Jahren nicht mehr Weltmeister im Schwergewicht.

Von Saskia Aleythe, Düsseldorf

In punkto Nervensäge macht Tyson Fury niemand etwas vor. Zwei Mal drohte er mit einer Absage des Kampfes, selbst wenige Minuten vor der Begegnung mit Wladimir Klitschko provozierte er seinen Gegner noch durch Psychospielchen in der Kabine. Und das tatsächlich mit Erfolg: Tyson Fury besiegte den Weltmeister nach Punkten - und beendete die elfjährige Siegesserie von Dr. Steelhammer.

Vor dem Kampf

Beschweren kann sich Wladimir Klitschko nicht: Er bekam von seinem Gegner Tyson Fury in den vergangenen Wochen jede Menge geboten. Der Engländer gab Interviews, die an seinem Geisteszustand zweifeln ließen, dachte sich kreative Beleidigungen aus und führte zur Unterstützung sogar ein Schauspiel auf. Unterhaltung pur! Konkreter: Fury meint, dass die Welt bald vom Teufel heimgesucht wird, er attestierte Klitschko das Charisma einer Unterhose, inszenierte als Batman verkleidet eine Prügelei mit einem Mann im Joker-Gewand und dann sang er auch noch. Langweilig ist der Engländer wahrlich nicht. Aber vermutlich auch nicht ganz dicht. Klitschko versprach dem "Patienten" eine "Therapie im Ring", ansonsten genoss er die Show. Und die Ticketverkäufe: Mindestens 40.000 Zuschauer sollen sich im Düsseldorfer Fußballstadion einfinden. Am Ende wird Klitschko etwa sieben Millionen Euro einnehmen, Fury 3,5.

Gegenüberstellung der Boxer

Es ist ja so ein Manko seiner großen Karriere: Wladimir Klitschko fehlen die Herausforderungen so wie der Düsseldorfer Fortuna die Tore. Seit elf Jahren ist er ungeschlagen, da braucht es schon besondere Maßnahmen zur weiteren Motivation. Und die soll nun Tyson Fury sein. Mit 2,06 m überragt der Engländer Klitschko um acht Zentimeter. Ungewohnt für den Ukrainer und Klammerfreund mit Hang zum auf-den-Gegner-Ducken. Dazu kommt eine um zehn Zentimeter größere Reichweite bei Fury, und - wohl am entscheidendsten - sein Boxstil. Fury wechselt die Auslage beim Boxen, das ist unüblich, darauf muss sich auch ein Wladimir Klitschko erst einstellen. Das reichte ihm schon an Faktoren, um ordentlich heiß auf den Kampf zu sein. Und um ein strammes Trainingspensum zu absolvieren: 120 Sparringsrunden trainiert Klitschko üblicherweise vor Kämpfen, dieses Mal sollen es 200 gewesen sein. Zwischendurch riss er sich eine Sehne in der linken Wade, der Kampf wurde um fünf Wochen verschoben.

Mit 27 Jahren ist Fury zwölf Jahre jünger als Klitschko. Alle seiner 24 Profikämpfe hat er gewonnen, 18 durch K.o., bis auf Dereck Chisora waren seine Gegner eher namenlos - Weltmeister war er nie. Klitschko trägt die Titel der WBO, WBA, IBF und IBO und profitiert freilich von der Erfahrung von 67 Kämpfen (54 K.o.) bei drei Niederlagen. Größe, Reichweite, unorthodoxer Boxstil: Das verliert leider schnell an Gewicht, wenn man sich diesen Fury mal anschaut. Unter Berufsboxern hat der Engländer die Verfassung einer Quarktasche. Gut, okay, vor ein paar Monaten wog er noch 146 Kilogramm. Wer ihn beim Einwiegen gesehen hat, konnte Muskeln unter der geschmeidigen Hülle aber trotzdem nur erahnen. 112 kg brachte er auf die Waage, 111,5 kg Klitschko - nie sah dasselbe Gewicht so unterschiedlich aus. Während sich beim Ukrainer jeder Muskel mit lateinischem Eigennamen vorstellte, wirkte Fury wie frisch von der Couch.

Doch noch zu viele Cones genascht? "Ich trainiere unheimlich hart, aber mein Körper ist wie Gelee", sagt Fury selbst. Mal sehen, ob Gelee auch boxen kann. Kleiner Vorgeschmack: Henry Maske bezeichnete Fury vor dem Kampf als "koordinativ minderbegabt". Bei einem Kampf vor ein paar Jahren traf er sich selbst mit einem rechten Haken im Gesicht. Immerhin: Er blieb stehen.

Neben dem Ring

Ach ja, diese Düsseldorfer Arena: Da der Boxring nur ein Bruchteil der üblichen Rasenfläche einnimmt, bleibt genügend Platz für Promis drumherum. Die konnten sich auf der wohl größten Sauf- und Fressmeile bei einem Boxkampf ins Delirium verköstigen. Was sich noch regen konnte, präsentierte sich in Kurzinterviews bei RTL. Klitschkos Freundin Hayden Panettiere weilte gut gelaunt mit großem Hut in den vordersten Reihen, Lennox Lewis ließ sich mit Ringsprecher Michael Buffer massenblitzlichten, Komiker Paul Panzer, Martin Kaymer und Henry Maske wurden auch gesichtet. Und irgendwo dazwischen schlurfte wie immer Marco Huck mit seinem siamesischen Zwilling. Der Rest plumpste einfach so auf seine Sitze.

Und dann kam Rod Steward. Im goldenen Jäckchen. Das war dann schon ziemlich weihnachtlich: Volle Bäuche, schimmernde Robe, der erste Advent konnte kommen. Und das Publikum wurde deutlich aufgefordert, das zu würdigen: Schließlich sang Steward da erstmals auf deutschem Boden einen neuen Song. Titel: Please. Vielsagend. Zeile: Stay with me tonight. Mal gucken.

Einmarsch der Boxer

Das Publikum gegen sich aufzubringen - vielleicht braucht Tyson Fury das. Weil sein Trainer beim Wickeln der Handschuhe von Wladimir Klitschko nicht pünktlich war, aber unbedingt dabei sein wollte, musste Klitschko seine Hände kurzerhand neu wickeln. RTL-Moderator Florian König moderiert das angestrengt durch die Verzögerung hindurch, dann sagt Michael Buffer den Herausforderer an - und schließlich kommt Fury: Das Stadion buht, das Stadion pfiff. Fury tänzelt, grinst, kaut Kaugummi und ruft in die Menge. Sein Körper vom schwarzen Satin-Mantel lässig umhüllt, eher funktional als schick.

Und dann wird es richtig laut: Wladimir Klitschko macht, was er schon seit Jahren macht: Er schreitet zu "Can't stop" von den Red Hot Chilli Peppers mit versteinertem Blick zum Ring, der Mantel rot mit goldenem Rand, dahinter streckt seine Entourage die ganzen WM-Gürtel gen Stadiondach. Als er in den Ring schreitet, kommt ihm Fury provokativ entgegen. Und macht immer wieder riesige Ausfallschritte. Gut möglich, dass das gar nicht Tyson Fury, sondern in Wirklichkeit Jan Böhmermann ist.

So lief der Kampf

Vorstellung der Boxer durch den Ringsprecher

Die Hymnen erklingen, Fury pendelt mit dem Oberkörper durch den Ring. Keine Sekunde kann er still stehen. Klitschko ist mit dem Ringboden verwachsen. Buffer würdigt die Leistungen der Kämpfer, Fury hätte mit seinen Dehnungen und Lockerungsübungen schon ein ganzes Youtube-Video drehen können. Klitschkos Gürtel schweben noch immer über den Köpfen.

Runde 1

Fury rennt in die Ringmitte und dann gibt es viel Gezappel: Der Engländer lässt seine linke Hand immer wieder provokativ nach unten hängen und täuscht mit dem Oberkörper Attacken an - die kommen aber erstmal zaghaft. Bei Klitschko ergibt das dennoch ein ungewohntes Bild: Er kann den Gegner nicht wie gewohnt mit seinem Jab vom Leib halten.

Runde 2

Schon klar: Fury will Klitschko hier richtig auf die Palme bringen. Auf eine Deckung verzichtet er deshalb. Klitschko versucht es weiter mit dem Jab und kann ihn auch erstmals an Furys Kopf bringen. Zum Infight kommt es kaum - und wenn, verhaken sich die beiden sehr schnell ineinander. Klitschko muss sich hier erst noch herantasten.

Runde 3

Jetzt geht Klitschko aktiver ins Getümmel - aber nur einen Tick. Er kommt nicht an Fury heran. Der verschränkt nun schon die Arme hinter seinem Körper - das hat in den vergangenen elf Jahren auch kein Gegner gebracht. Klitschko kann seine Schläge nicht an den Mann bringen, weil der wild durch die Gegend pendelt. Trotz Quarktaschen-Optik.

Runde 4

Kommt nun der erste richtig harte Schlag? Das Stadion ruft Klitschkos Namen, doch der kann nur ein paar Stubser verteilen. Er sucht die Nahdistanz, Fury zuckt und windet sich. Viel Boxen ist das gerade noch nicht.

Runde 5

Klitschko hat allmählich doch genug von Furys Mätzchen: Er wird fordernder und geht Fury offener an. Der schlägt einmal mächtig ins leere, verpasst Klitschko anschließend aber einen Kopfstreichler. Klitschko kontert mit einer Links-Rechts-Kombination. Fury hat aber immer noch Zeit für Mätzchen: Er versperrt dem Ukrainer nach dem Gong den Weg zur Ringecke. Klitschko hat einen Cut.

Runde 6

In der Defensive ist Klitschko heute definitiv mehr gefordert als bei seinen letzten Kämpfen - und er wehrt Furys Fuchtelei bisher noch recht konzentriert ab. Aus welcher Richtung wohl die nächste Faust angeflogen kommt? Egal, Klitschko hat das im Griff. Aber sein Stahlhammer ist noch ganz tief verborgen.

Runde 7

Es ist Zeit für Körperkontakt: Klitschko und Fury begegnen sich nun im Vollkontakt, der Engländer gibt ihm auch gerne von der Seite und von hinten eine mit. Auch regulär kommt er mit einer Linken durch. Dann nimmt er wieder die Fäuste auf den Rücken.

Runde 8

Das geht schon länger als erwartet: Klitschkos Trainer hatte das Kampfende schon für die Kampfmitte vorhergesagt. Und es wird langsam kritisch für Klitschko: Fury kommt doch öfter duch als gedacht. Eine Linke von Klitschko kann er gut einstecken.

Die entscheidenden Minuten des Kampfes

Runde 9

Da kommt das Stahlhämmerchen zum Vorschein: Fury tänzelt zwar noch viel, die Faust von Klitschko hat er trotzdem im Gesicht. Doch gleich in der nächsten Aktion ist wieder der Engländer erfolgreich. Den Wumms hat er gut eingesteckt.

Runde 10

Wird der Riese aus Manchester hier tatsächlich zum Weltmeister? Er schwingt noch immer gefährlich durch die Gegend, wechselt mal aufs linke, mal aufs rechte Bein. Klitschko passt akribisch auf - zu eigenen Attacken kommt er aber kaum. Die mitgereisten britischen Fans sind plötzlich laut zu hören - der Rest ist noch mit der Verdauung beschäftigt.

Runde 11

Plötzlich wird Fury zum Duckboxer: Er legt sich immer wieder nach vorne, das macht das Kämpfen für Klitschko nicht leichter. Dann teilt Fury ein paar Schläge aus, die landen aber nur an Klitschkos Armen. Der Ukrainer trifft zweimal hintereinander, dann versetzt ihm Fury schon wieder Hinterkopfschläge - ein Punktabzug scheint ihm sicher.

Runde 12

Ein riesiger Erfolg für jeden Boxer: Gegen Klitschko in die zwölfte Runde zu kommen. Und Fury dominiert Kitschko auch noch: Er teilt kräftig aus, Klitschko gerät immer mehr in Bedrängnis. Er braucht ein K.o. - und trifft seinen Kontrahenten in der Mitte der Runde empfindlich, Klitschkos härtester Schlag des Abends. Beide taumeln nun mehr durch den Ring, Klitschko hat noch ein paar Körner mehr: Er attackiert, kommt aber nicht entscheidend durch - das war es mit seiner Siegesserie.

Nach dem Kampf

Beide Boxer reißen die Arme in die Höhe, als die Ringglocke schrillt. Klitschko allerdings so angeschlagen wie seit Jahren nicht mehr. Es wird ganz still im Klitschko-Lager. Und dann die Verkündung: Tyson Fury heißt der neue Weltmeister! Ein wildes Hüpfen auf der Seite der Briten, Klitschko schluckt und guckt betreten. Sein Titel ist damit futsch. Fury darf ans Mikro, er kommt gleich wieder auf den Allmächtigen im Himmel zu sprechen, dann bricht ihm auch schon die Stimme weg - mit seinem Sieg hat er wohl selber nicht gerechnet. Dann fängt er auch noch an zu singen. "I don't want to close my eyes" schmettert er für seine Frau im Ring.

Dann darf auch Klitschko ans Mikro. "Tyson war sehr überlegt und schnell, er hat das Beste gegeben", sagt Klitschko. "Die Schnelligkeit hat mir gefehlt", gibt er zu. Doch ein Altersproblem? "Ich habe gewusst, dass ich hinten liege", sagt Klitschko, aber er habe nicht mehr geben können. Eine niederschmetternde Erkenntnis.

Fazit: Klitschko wollte eine Herausforderung, Klitschko bekam eine - und verlor seine Titel der Verbände WBA, WBO und IBF. Ob er gegen einen Mann wie Tyson Fury seinen letzten Kampf bestrittenen hat? Das wird Klitschko wohl erst noch herausfinden müssen, in einer ersten Reaktion bejahte er die Frage nach einem Rückkampf, das "auf jeden Fall" kam allerdings eher leise daher. Fest steht: Gelee kann doch Weltmeister werden.

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