Wintersport:Schmales Brett

Die deutschen Snowboarder sind auf die Olympischen Spiele ausgerichtet. Allerdings fehlt es ihnen an Trainingsmöglichkeiten.

Von Stefan Brunner

Surfboards in allen Ecken. Im Wohnzimmer, im Treppenhaus, auf den Fotos an den Wänden. Robby Naish und John John Florence würden sich wohlfühlen bei Ettels. Dabei ist das Sportgerät Nummer eins im Haus der Familie Ettel in Pullach gar nicht das Surfbrett, sondern das Snowboard. Auf dem gewann Vater Julian schon 1991 den deutschen Meistertitel. Jetzt ist er Sportlehrer, und Tochter Leilani zuständig für die Trophäen.

Im Sommer geht es an den Atlantik, im Winter auf den Gletscher. Oder ins Studio

Zarte 13 Jahre alt war sie, als sie die Familientradition fortführte und ebenso Deutschlands Beste wurde: in der Halfpipe, wie einst der Vater. Jetzt ist sie 16 und nimmt Kurs auf die Weltspitze. Gerade kuriert sie noch ihren Kreuzbandriss aus, "ich fühle mich aber schon sehr stabil", sagt sie. Es geht ihr um gute Platzierungen im Weltcup - in den sie in dieser Saison erst etwas später einsteigen kann. Noch steht das Okay des Arztes aus. Vor allem aber geht es ihr und allen anderen im deutschen Freestyle-Team um die Qualifikation für die Olympischen Spiele im Februar in Pyeongchang.

Dafür sind Platzierungen nötig, und dafür wiederum sinnvolle Trainingsmaßnahmen in den schneefreien Monaten. Hier kommt wieder das Surfbrett ins Spiel. Viele Freestyle-Athleten gehen im Sommer zum Wellenreiten. Denn auch auf dem Wasser zählen die Balance, die Körperkontrolle, das Raum- und Brettgefühl, der richtige Moment für Drehung und Impuls. Silvia Mittermüller, Deutschlands beste Slopestyle-Athletin, schnallt also das Board auf ihren Roller und kurvt mit der 1,60-m-Fracht durch München, um auf einer der stehenden Wellen zu üben - "zumindest wenn es sich ergibt", sagt sie. Freestyle-Training folgt nicht immer sportwissenschaftlich sinnvoller Terminierung. Die anderen im Nationalkader sind ebenso wasseraffin. Slopestyle-Kollegin Nadja Flemming aus Röhrmoos (Kreis Dachau) surft, Leilani Ettel, deren Vorname auf Hawaiianisch so viel wie "Himmelsblume" bedeutet, sowieso.

Auch die Wellen auf dem offenen Meer sind ein geeigneter Trainingsplatz. Vor der Haustür der Ettels steht schon der VW-Bus, startklar für den Urlaub an der französischen Atlantikküste. Die ganze Familie ist begeistert, solange sie ein Brett unter den Füßen hat. Ein idealer Umstand, um ein Hochleistungssport-Kind kompromisslos zu fördern, denn das Training wird zur wertvollen Familienzeit - sogar während der Saison: Vater, Mutter und die beiden Töchter quetschen sich dann in ihr Alpen-Apartment in der Schweiz. "Ein Wohnklo, mehr ist es nicht", sagt Julia Ettel, Leilanis Mutter. Jedes wettkampffreie Winter-Wochenende fahren sie ihre Tochter zum Trainieren nach Laax, 300 Kilometer einfach, von November bis April.

SNOWBOARD FREESTYLE FIS WC PyeongChang PYEONGCHANG SOUTH KOREA 14 FEB 17 SNOWBOARD FREESTYLE F; Snowboard

Dafür der ganze Aufwand: Leilani Ettel, 16, deutsche Meisterin in der Halfpipe, in Aktion.

(Foto: imago)

Zurück ins Frühjahr. Der Schnee wird sulzig, man fällt zwar weicher - kein unerheblicher Vorteil im Freestyle-Sport - aber irgendwann kommt man eben nicht mehr recht vom Fleck. Die Boarder ziehen weiter, wechseln Skigebiete, manchmal Erdhalbkugeln. Oft enden sie in der Übergangszeit auf dem Dachstein-Gletscher; ohne klare Struktur allerdings, von Tag zu Tag sei zu denken und den Kapriolen des Wetters zu folgen. "Wenn es passt, dann starte ich superfrüh, um halb sechs, von München zum Dachstein." Silvia Mittermüller verdichtet ihr Training dort, steht auf dem Snowboard, "so lange es die Konzentration erlaubt". Ob dem ersten ein zweiter und gar dritter Tag folgt, ist selten absehbar. "Ich schlafe bei Freunden, habe auch schon gezeltet oder im Auto übernachtet." Kein luxuriöses Campo Bahia also wie bei der Fußballnationalmannschaft in der WM-Vorbereitung, sondern Bodenständigkeit, die fast grenzwertig anmutet.

Doch es hört sich nicht unzufrieden an, wenn die 34-Jährige aus Trudering ihre Trainingsumstände beschreibt, sondern eher nach Freude an der Unabhängigkeit. "Ich entscheide alles selbst", sagt Mittermüller. Auf ihrem Plan steht dann zum Beispiel Schwimmen im See oder Beachvolleyball oder Krafttraining. Die Grundlagen für die richtigen Trainingsentscheidungen habe Jochen Babock gelegt, der für die Freestyler zuständige Sportwissenschaftler am Münchner Olympiastützpunkt (OSP). "Fünf bis sieben Mal pro Woche gehe ich ins Fitnessstudio, mache Kraft und Koordination. Diese Riesensprünge packst du sonst nicht", sagt Mittermüller.

Nadja Flemming folgt ebenso Babocks Trainingsplänen, nützt dafür ein Fitnessstudio in Dachau. Seit- und Schersprünge und Kniebeugen mit der Langhantel hat Babock ihr etwa ins Programm geschrieben. Auch Bankziehen und -drücken, Butterfly und Klimmzüge, um Arme und Rumpf zu kräftigen, Seil- und Kastenaufsprünge zum Trainieren der Sprungkraft. Den 30. Platz belegte Flemming vor einer Woche beim Weltcup-Auftakt. "Es war noch ein bisschen zu früh für einen solchen Kurs", analysiert sie. "Ich bin schon lang keine großen Kicker mehr gesprungen", über die großen Schanzen also.

Fehlen die Trainingsareale? Konstantin Schad, 13. der Spiele von Sotschi im Boardercross, bedauert zumindest, dass "im Moment jedes eventuelle Talent mindestens nach Österreich gekarrt werden muss, um überhaupt in einer Pipe oder einem anständigen Park trainieren zu können". In Berchtesgaden, am eigentlichen Olympiastützpunkt der Freestyler, wurden nach langwieriger Planung auf jeden Fall die Trainingsvoraussetzung fernab der Funparks verbessert. Eine Trampolinanlage hat man gebaut, eine kleine Anlage zum Skatboarden ergänzt - diese Variante ist ebenso trainingsrelevant. Leilani Ettel hätte sich sogar fast darauf spezialisiert.

Auch in München finde man eine ausreichende Trainingsinfrastruktur, sagt Stefan Knirsch, Geschäftsführer von Snowboard Germany, dem deutschen Snowboard-Dachverband. Knirsch zählt die öffentlichen Skateanlagen auf und die Trainingsangebote am OSP, aber auch die Freestyle-spezifischen Möglichkeiten, vor allem das so wichtige Trampolin: "In München gibt es ein sehr gutes Leistungszentrum vom Bayerischen Turnverband, dort haben wir Trainingsfenster mit verschiedenen Trainern." Und dann ist da noch das Gravitylab mit all den Rampen und Trampolinen. Doch dorthin schafft es nachweislich bislang fast nur der Nachwuchs, für den die Eltern Trainingszeiten bezahlen.

"Der Snowboard Verband tut sicher alles, was er kann", sagt Konstantin Schad, den alle nur Konsti nennen. Schad setzt sich auch als Vorsitzender der Athletenkommission des Ski-Weltverbands Fis für die Bedürfnisse der Sportler ein. "Aber", schränkt der 30-Jährige aus Fischbachau (Kreis Miesbach) ein, "in diesen neuen Sportarten hinken wir anderen Ländern weit hinterher." Ein Grund dafür sei die fehlende spezifische Sozialisation. "Da fehlt es in Deutschland leider noch komplett am gesellschaftlichen Stellenwert des Snowboard- und Ski-Freestyle-Sports", sagt Schad. "In den USA ist eine X-Games-Medaille im Snowboarden mehr wert als ein Weltmeistertitel im Biathlon. Actionsport ist dort in der Mitte der Gesellschaft angekommen, genauso wie in Australien, Neuseeland, Kanada, Skandinavien, sogar der Schweiz. Und genau von dort kommen unsere Hauptkonkurrenten her."

Freestylerin Leilani Ettel, 16, über ihr Gefühl während eines Sprungs:

"Keine Bindung zum Boden, völlig frei, einfach irre!"

Auch Leilani Ettels Halfpipe-Kollege Johannes Höpfl verweist auf die Schweiz. "Dort trainieren sie sicherlich täglich mit ihren Coaches. Im Wettkampf ist immer ein Physio dabei, teilweise auch bei den Trainingslehrgängen." Der Zustand hierzulande sei "krass, das muss man leider so sagen". Es fehle an Fördergeld, "wir trainieren viel allein".

Um so bedeutsamer war für Höpfl jetzt die Zeit in Neuseeland, wo das Team vor allem von Disziplinen-Cheftrainer Michael Dammert betreut wurde. Das sei gut fürs Mentale, "der Trainer gibt einem da auch mal den nötigen Arschtritt". Doch es gab auch Misstöne. Freestyle-Coach Luka Gartner hat die atmosphärische Schieflage gespürt und das Slopestyle-Team gefragt, ob es denn weiter von ihm trainiert werden wolle. Dreimal "Nein" war ein deutliches Votum, das Gartner den Athleten nicht übel und sich nicht zu Herzen nehmen will: "Sie stehen unter großem Stress wegen der Konkurrenz um die Olympiaplätze." Dammert baut weiterhin auf Gartner, wohl mit veränderten Zuständigkeiten.

Doch auch noch so viele verfügbare Trainer können nichts an den Trainingsmöglichkeiten ändern. Die Athleten werden sich im Juli und August weiterhin wetter- und stimmungsabhängig im Fitnessstudio, auf dem Trampolin, dem Surfbrett und dem Skateboard vorbereiten, nur ausnahmsweise mal auf dem Snowboard. Denn dazu müssten sie zu den riesigen Airbags und Schnitzelgruben in Japan oder in den USA reisen. Oder nach Bispingen, südlich von Hamburg. Slopestlyer Maximilian Preissinger hat dort im Snowdome geübt, einer Halle, auch in der Sommerhitze. "Ich habe dort auf dem Parkplatz im Zelt geschlafen", erzählt der Starnberger, der für den TSV Unterhaching startet.

Trotz aller Campinglaune der Athleten drängt sich an dieser Stelle dann doch mal die Frage nach dem Budget auf. Der Verband versuche, "sämtliche Kosten bestmöglich und leistungsorientiert für seine Athleten zu übernehmen", sagt Geschäftsführer Knirsch. Doch allein die drei Weltcups auf der Südhalbkugel, die immer mit umfangreichen Trainingslagern verknüpft sind, belasten die Kasse stark. So muss, bittere Konsequenz, manche Anreise aus eigener Tasche bezahlt werden, etwa vor ein paar Tagen die Flüge der Nationalmannschaft zum Saisonstart in Neuseeland. Zumindest sind die meisten Athleten finanziell abgesichert, stehen im Staatsdienst, sind aufgenommen in die Fördergruppen von Bundeswehr und Polizei, beziehen Geld auch, wenn gerissene Bänder und geprellte Muskeln ihren Einsatz verhindern.

Verletzungen sind der unliebsame Begleiter im Freestyle-Genre. "In unserem Sport haben schon die 18-Jährigen ihre Wehwehchen", sagt Silvia Mittermüller, die schon vor drei Jahren in Sotschi dabei sein wollte, sogar als Gold-Kandidatin gehandelt wurde. Dann riss die Achillessehne. Auch drei Kreuzbandrisse hat sie hinter sich, in der letzten Saison wäre es fast zu einem vierten gekommen. Dann war es der Meniskus, Ausfall: vier Monate. Sie wolle nun einfach nur "mit gesundem Körper nach Korea gehen". Beim Weltcup-Auftakt in Neuseeland sprang die Münchnerin auf den 17. Platz.

Das beste Ergebnis des deutschen Teams fuhr Johannes Höpfl ein. Im Januar noch wurde er an der Patellasehne im rechten Knie operiert, war gezwungen, insgesamt neun Monate Pause einzulegen. Ohne Wettkampfpraxis schoss er am Freitag durch die Halfpipe auf Rang zehn, "echter Wahnsinn!".

Vieles hat sich verändert, seit in den 70er Jahren der Surfer Dimitrije Milovich und der Skifahrer Jake Burton das pistentaugliche Snowboard erfanden. Ursprünglich wollte die Szene nicht einmal einem Verband angehören, inzwischen ist man olympisch, die Halfpipe seit 1998, Slopestyle seit 2014. Doch die Freestyle-Lebensart - "freischaffend" nennt sie Sportwissenschaftler Jochen Babock - hat überdauert, die Gestaltungsspielräume im Sommertraining beweisen es. So sind die lackierten Boards in Leilani Ettels Wohnzimmer eben nicht Dekoration, sondern bunter Fingerzeig auf eine besondere Spezies. "Wir fahren mit Herz und Seele", sagt Mittermüller. Sport als Gefühl, aber auch als Anspruch. "Wir brauchen dieses innere Feuer, um gut zu werden. Keiner weiß so recht, was in uns vorgeht, auf diesem schmalen Grat zwischen Vernunft und Risiko." Wenn Leilani Ettel ihr Gefühl in der Flugphase beschreibt, dann klingt es fast wie ein Szene-Credo: "Keine Bindung zum Boden, völlig frei, einfach irre!"

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