Wetter:Tänzelnd durch schwere Seenot

Wetter: Männer über Bord: Die Serben Milos Vasic und Nenad Bedik mussten aus dem Wasser gefischt werden. Auch andere Sportler haben Probleme mit dem Wind.

Männer über Bord: Die Serben Milos Vasic und Nenad Bedik mussten aus dem Wasser gefischt werden. Auch andere Sportler haben Probleme mit dem Wind.

(Foto: Andre Penner/AP)

Südwind wirbelt Rio durcheinander - vor allem die Ruder-Regattastrecke erweist sich als Überraschungsbecken. Die Bogenschützen fühlen sich wie im Windkanal.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Am Morgen nach dem Sturm sieht Rio noch etwas aufgewühlt aus. Es wurde eine weltrekordverdächtige Zahl von Mülltonnen umgeweht am ersten Olympiasonntag, deren nicht durchweg appetitlicher Inhalt sich gleichmäßig in der Stadt verteilte. Altpapier, Plastikabfälle und Biomüll fegten durch die Straßen, Äste brachen, Flaggen zerfledderten, von den Stränden blies einem der Sand in die Augen.

Eine Kaltfront aus Süden hatte die Stadt am Wochenende mit Windgeschwindigkeiten bis zu 80 Kilometern pro Stunde erreicht. Das ist nicht ungewöhnlich um diese Jahreszeit. Neu ist bloß, dass unter diesen Bedingungen jetzt olympischer Wettkampfsport getrieben werden soll. Vor allem die Ruderer auf der Regattastrecke in der Lagoa Rodrigo de Freitas gerieten am Wochenende in schwere Seenot.

Das Wichtigste zu Olympia 2016 in Rio

Schon am Samstag waren dort die Serben Milos Vasic und Nenad Bedik gekentert. Zahlreiche Boote standen wegen des hohen Wellengangs quer zur Spur. Der Deutschland-Achter brach am Sonntagmorgen sein Training ab, nachdem das Boot mit Wasser vollgelaufen war. "Nicht ruderbar", befand Trainer Ralf Holtmeyer. Der Weltverband Fisa sah das ähnlich. Der gesamte Wettkampftag wurde abgesagt. Wenn der deutsche Achter ein S.O.S-Signal sendet, dann ahnt man, dass die Stunde geschlagen hat.

Rios große Fußballvereine wurden einst allesamt als Ruderklubs gegründet

Die Weltöffentlichkeit hat sich ja mit vielen Notfallszenarien beschäftigt vor den ersten Spielen in Südamerika. Sie sorgte sich wegen der alltäglichen Gewalt in Rio, der allgemeinen Bedrohungslage durch den internationalen Terrorismus, des Brackwassers in der Segelbucht, wegen der Wirtschaftskrise und der ungewissen politischen Lage, wegen der Stechmücken und den Klospülungen im Athletendorf. Bloß ans Wetter hat keiner gedacht.

Komisch eigentlich. Wenn es in Rio stürmt, brechen hier regelmäßig die Telefonverbindungen, das Fernsehsignal und das Internet zusammen. Manchmal fällt auch der Strom aus und die Aufzüge bleiben stehen. So wie am Sonntag im olympischen Dorf. Dass es gerade über Lagoa Rodrigo de Freitas stramm ziehen kann, ist auch kein Geheimnis. Jahr für Jahr ist die Lagune der Schauplatz eines der größten Feste dieser Stadt. Dort leuchtet traditionell zur Adventszeit der angeblich "größte schwimmende Weihnachtsbaum der Welt".

Zwar wurde noch nicht von unabhängigen Stellen überprüft, ob irgendwo auf diesem Planeten nicht doch noch ein größerer Christbaum herumschwimmt. Andererseits: Welche schiffbare Nordmanntanne sollte größer sein als jene 85 Meter hohe und 542 Tonnen schwere Metallkonstruktion, die Rio aufzubieten an? Kurz vor Weihnachten 2015 wurde sie von einer steifen Brise über der Lagune zu Fall gebracht.

Auch die Bogenschützen fühlen sich wie in einem gigantischen Windkanal

Zu den Windgeschädigten dieser noch jungen Spiele zählen unter anderem auch die Bogenschützen, die sich im Sambódromo, der Kathedrale des Karnevals, messen. Dort kam man sich am Sonntag wie in einem gigantischen Windkanal vor, die Luft wehte von der einen Seite herunter und auf der anderen wieder hinauf. Teilnehmer sprachen von einer Art "Trichter-Effekt". Gemessen daran flogen die meisten Pfeile noch erstaunlich präzise ins Ziel.

Aus dem gesamten Stadtgebiet wurden derweil kleinere bis mittelschwere Unfälle gemeldet. Zwei Ampeln fielen um. An der Copacabana stürzte ein olympisches Werbebanner ein und traf eine belgische Touristin. Sie wurde mit leichten Verletzungen ins Krankenhaus gebracht.

Eine französische Journalistin, die in einem winderschütterten Pressezentrum ein Deckenelement abbekommen hatte, blieb unverletzt. Weggeblasen wurden auch Teile der Stoffverkleidung der Beachvolleyball-Arena sowie dekorative Planen an der Schwimmhalle und am Tennisstadion. Neun Tennisspiele mussten verschoben werden. Auch eine Segelregatta wurde abgesagt.

Für Mittwoch haben die Metrologen eine weitere Kaltfront angekündigt

Gerade beim Rudern waren die Olympia-Organisatoren durchaus auch auf windige Tage eingestellt. Die Bojen der Strecke sind vorab am Boden der Lagune vertäut worden, das sollte sie stabil halten. Im Wildwasser vom Sonntag hat das jedoch auch nicht mehr geholfen. Am Montagmorgen konnte es zunächst wie geplant weitergehen. Ein Mitglied der Wettkampfleitung sprach von "perfekten Bedingungen." Klar, es nieselte leicht, für die Stege am Ufer wurde eine "Rutschwarnung" ausgegeben. Der Wind aber hatte sich einstweilen beruhigt.

Das bislang größte Opfer ist der Ruder-Wettkampfkalender. Er musste wegen der Zwangspause am Sonntag stark zusammengepresst werden. Bis Dienstagabend aber sollen alle verschobenen Rennen nachgeholt sein, dann könne zum ursprünglichen Zeitplan zurückkehrt werden, teilte Fisa-Generalsekretär Matt Smith mit. Es ist ein Puffertag im Kalender eingeplant. Wenn das Wetter mitspielt, dürfte immer noch genug Zeit sein, um alle Medaillen auszurudern. Wie gesagt: Wenn das Wetter mitspielt. Die Meteorologen haben eine zweite, möglicherweise noch stärkere Kaltfront für Mittwoch angekündigt.

Es wäre trotzdem die falsche Diskussion, jetzt die Auswahl dieser Regattastrecke in Frage zu stellen. In der Lagoa Rodrigo de Freitas schlägt traditionell das Herz dieser Ruderstadt. Die großen örtlichen Fußballvereine Flamengo, Botafogo und Vasco da Gama wurden dort einst allesamt als Ruderklubs gegründet, worauf unter anderem das Kürzel C.R im vollen Namen von Flamengo verweist: Clube de Regatas.

Alexandre Xoxô, erfahrener Rudertrainer von Botafogo, kennt die Lagune sein Leben lang als "Überraschungsbecken". Es könne passieren, dass man es dort in einem einzigen Rennen mit drei verschiedenen Windrichtungen zu tun bekomme. Ortsunkundigen Sportlern rät er, die Fahne auf dem Dach des Ruderklubs von Botafogo zu beobachten, der sich etwa auf halber Strecke des Olympiakurses befindet. "Wenn das Fähnchen wedelt", sagt Xoxô, "dann muss man hier tänzelnd rudern." Es war immer klar, das Rio ein besonderer Austragungsort sein würde. Ein Ort, an dem sogar die Ruderer tanzen müssen, wenn sie Gold wollen.

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