Wasserspringen:Leicht wie ein feiner Pinselstrich

Diving - 16th FINA World Championships: Day Four

In ihrem Element: Tania Cagnotto, Weltmeisterin vom Ein-Meter-Brett.

(Foto: Getty Images)

Bei ihrer letzten Weltmeisterschaft bricht Italiens Tania Cagnotto Chinas Dominanz.

Von Birgit Schönau, Kasan/Rom

So viele Tränen für einen Sprung. Einen perfekten Sprung vom Ein-Meter-Brett, zum ersten Gold bei Tania Cagnottos letzter Weltmeisterschaft. Die Italienerin aus Bozen ist im Mai 30 geworden und hatte schon vor der Abreise nach Kasan mitgeteilt, dass die WM in Russland ihre achte und letzte sein würde. Nichts wünschte sich Cagnotto zum Abschied sehnlicher als eine WM-Goldmedaille, jene Trophäe, die sie stets so knapp verpasst hatte. Dabei ist auf dem europäischen Kontinent keine andere Wasserspringerin so erfolgreich wie die Südtiroler Finanzpolizistin: 17 Mal gewann sie bei Europameisterschaften. Zu Hause gibt es für Cagnotto keine Rivalinnen, draußen aber dominieren die Chinesinnen. Sieben WM-Teilnahmen, sieben Medaillen, Gold war nie dabei.

Ihre Freunde nennen sie "Tan", weil sich das ein bisschen chinesisch anhört. Tan, zeige es ihnen! Und tatsächlich schlug sie am Dienstag zwei Chinesinnen. Eine Sensation, denn bei den fünf übrigen Sprungwettbewerben dieser WM hatte stets China abgeräumt. "Dass ich He Zi ausstechen könnte, wusste ich", sagte Cagnotto, "aber Shi Tingmao ist im Wettbewerb wie eine Walze, die alle plattmacht."

In der Qualifikation am Sonntag hatte Shi die Italienerin noch abgehängt. Vielleicht auch, weil die zuvor beim Synchronspringen gepatzt und nur Platz fünf erreicht hatte. Shi gewann diesen Wettbewerb mit ihrer Partnerin Wu Minxia. Es war das dritte WM-Gold für die 23-Jährige mit dem perfekten Athletenkörper und dem perfekten Timing. Shi gehört schon jetzt die Bühne und die Zukunft sowieso. Sie ist äußerst kraftvoll und vollkommen konzentriert. Aber alle Leichtigkeit, alles Tänzerische gehen ihr ab.

Cagnotto hat lange Ballett getanzt als Kind. Sie tänzelte auf dem Brett, sie wollte den perfekten Sprung, "ich konnte es kaum erwarten". Dieses eine Mal, das letzte Mal musste es gelingen. In der Nacht vor dem Wettkampf hatte sie kaum geschlafen, und als sie schließlich einnickte für kurze Zeit, da träumte sie vom Springen. Und vom Sieg. Der Dienstag kam, sie wählte einen Schwimmanzug in hellen Farben, mit italienischen Postkartenmotiven. Das römische Kolosseum, der schiefe Turm von Pisa, die Rialtobrücke in Venedig. Italiens Stolz und Schönheit. Ihr Salto war traumwandlerisch sicher und leicht wie ein feiner Pinselstrich.

Dann Tränen. Viele Tränen, viele Schluchzer, auch noch auf dem Podium und bei der Hymne. Die ganze Anspannung floss hinweg. "Ich habe das Wasserspringen gewählt, weil es ein Nischensport ist", hatte Tania Cagnotto vor der WM erklärt: "Es ist nicht so bekannt, und deshalb ist der Druck nicht so stark." Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Denn in Italien ist die Nischenfrau Cagnotto ein Star, fast so populär wie die Schwimmerin Federica Pellegrini, wenn auch nicht halb so glamourös. Pellegrini ist die Diva mit Allüren, Cagnotto das brave Mädchen von nebenan. Pellegrinis Liebesgeschichten und Eifersuchtsdramen mit den Schwimm-Männern haben das Zeug zur Soap-Opera, Cagnotto segelt mit ihrem Verlobten, einem Steuerberater, am liebsten allen davon.

Am Dienstag schaute halb Italien Wasserspringen, sogar, zumindest mit einem Auge, die Regierung. Ministerpräsident Matteo Renzi gratulierte nachher enthusiastisch: "Bravissima Tania", wobei Renzi natürlich auch immer ein wenig sich selbst gratuliert. Schnell wurde von allen Seiten daran erinnert, dass Italien 40 Jahre lang auf ein WM-Gold im Wasserspringen hatte warten müssen; zuletzt hatte das Klaus Dibiasi 1975 geschafft. Übrigens der ewige Rivale von Tanias Vater Giorgio Cagnotto, der als Springer auch sehr erfolgreich war, jedoch nie den WM-Titel holte. Die Cagnottos sind eine echte Springer-Dynastie, zu der auch Tanias Mutter Carmen Casteiner und der Großvater väterlicherseits gehören. Der Sprung ins Wasser als Familienpassion, die Nische als Erbhof.

Die Italiener sind fasziniert von der Mischung aus Leichtigkeit und Kontrolle beim Springen

"Es ist ein harter Sport", sagt Tania Cagnotto, "man braucht so viel Geduld, so viel Hartnäckigkeit, und dann kommt der Wettkampf und die Tagesform entscheidet. Immer." Vollständige Körperkontrolle für Bruchteile von Sekunden, in einem ästhetisch vollkommenen Schwebezustand zwischen Luft und Wasser. Bis zu den Olympischen Spielen 2012 in London hatte sie ausschließlich ihr Vater trainiert. Nachdem sie aber auch bei der vierten Olympia-Teilnahme ohne Medaille geblieben war, entschied sich Cagnotto für Papas Zögling Oscar Bertone als neuen Coach.

Das sind Namen, die international nur ein kleiner Kreis von Springer-Freaks kennt, aber in Italien sind das durchaus prominente Leute. Die Mischung aus federnder Leichtigkeit und Kontrolle machen das Wasserspringen für Italiener faszinierend. Und ist nicht das Wasser sowieso das ur-italienische Element? Nel blu dipinto di blu, heißt es in der heimlichen Nationalhymne "Volare", wo es um das Himmelsblau geht und das Blau des Wassers, die in einem italienischen Sommer ineinander fließen wie die Bewegungen der Wasserspringerin Cagnotto.

"Ich wollte in Schönheit abschließen", sagte sie, als die Freudentränen getrocknet waren. Am Freitag könnte Cagnotto noch mal siegen, vom Drei-Meter-Brett. "Das werde ich genießen", verspricht sie. Könnte schön werden.

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