Wales-Trainer Chris Coleman:Zurück aus der Dunkelheit

Wales-Trainer Chris Coleman: "Wer zurückblickt, kommt nicht nach vorne": Mit Hilfe des herausragenden Kapitäns Gareth Bale (rechts) hat Trainer Chris Coleman die Auswahl aus Wales nach schweren Zeiten ins EM-Halbfinale geführt.

"Wer zurückblickt, kommt nicht nach vorne": Mit Hilfe des herausragenden Kapitäns Gareth Bale (rechts) hat Trainer Chris Coleman die Auswahl aus Wales nach schweren Zeiten ins EM-Halbfinale geführt.

(Foto: Pascal Pavani/AFP)

Kühl und clever hat der Übungsleiter bei seinem ersten großen Turnier den Fußballern aus dem Rugby-Land Wales die Minderwertigkeitskomplexe ausgetrieben.

Von Raphael Honigstein, Paris

Auf dem Spielberichtsbogen steht an diesem Mittwoch das EM-Halbfinale Wales gegen Portugal, Gareth Bale gegen Cristiano Ronaldo in Lyon. Chris Coleman, der Trainer der Red Dragons, hat vor der Abfahrt aus dem Teamlager in der Bretagne mit ergreifenden Worten erklärt, dass die Reise für seine Männer jedoch ganz woanders hingeht: ins Licht. "Man kann sich davon blenden lassen, darin eingehen und wieder zurück in die Ecke kriechen, aus der man gekommen ist", sagte Coleman, "oder man kann an sich glauben und sich hinstellen und sagen: Hier bin ich!"

Coleman trifft bei seinem ersten großen Turnier als Trainer immer den richtigen Sound

Wales habe so lange auf die Teilnahme an einem internationalen Wettbewerb gewartet, dass es nun, in der Stunde des unerwarteten Erfolgs, "keine Furcht" mehr geben könne, führte Coleman, 46, weiter aus. Nur "die Chance, sich selbst gerecht zu werden und Gutes möglich zu machen".

Das klang ein bisschen nach Churchill, dem britischen Premierminister von einst, ein bisschen nach Eminem, dem amerikanischen Rapper, hatte aber einen unverkennbaren Waliser Einschlag und war perfekt temperiert. Coleman, der wegen seiner Vorliebe für Kekse seit Kindertagen "Cookie" gerufen wird, hat bei seinem ersten großen Turnier als Trainer von Anfang an den richtigen Sound getroffen - feurig und kühl zugleich sind seine Worte, wie das Spiel seines Teams. Es lebt von der Leidenschaft, vom kollektiven Kampf, aber auch von Kontrolle und Cleverness, die der Mann an der Seitenlinie ausstrahlt. Der ehemalige Profi (Fulham, Blackburn), dem 2001 bei einem Autounfall das Bein brach, der daraufhin seine Laufbahn beendete und bereits mit 32 beim FC Fulham zum jüngsten Premier-League-Trainer wurde, versteckt emotionale Intelligenz und seine weitreichenden Interessen (liest Bücher über Astrophysik) hinter einer Fassade der Verschlagenheit. Im Kabinenjargon würde man sagen: Er ist eine coole Sau.

Fußball ist nach Rugby nur der zweitwichtigste Sport im Südwesten der Insel, es gibt keine Profiliga, dafür seit dem Viertelfinale bei der WM 1958 eine ellenlange, unschöne Geschichte mit zahlreiche Pleiten und Peinlichkeiten. Wales hatte immer mal gute Spieler, aber nie ein richtig gutes Team. Insgeheim hatten sich viele mit der Rolle als ehrenwerte Verlierer arrangiert. Coleman aber hat seinem verschworenen Haufen die uralten Minderwertigkeitskomplexe ausgetrieben. "Wer zurückblickt, kommt nicht nach vorne", sagt er.

Dass der zuletzt in Griechenland bei Larisa und beim englischen Zweitligisten Coventry nicht mit außergewöhnlichen Ergebnissen aufgefallene Übungsleiter es geschafft hat, den Außenseiter so auszurichten, dass er bei dieser EM ganz für den Moment existiert, ohne Gedanken an negative Konsequenzen, ist imposant. Vor allem wenn man weiß, wie Coleman ins Amt gelangte.

Als er im Januar 2012 antrat - es gab keinen anderen geeigneten Kandidaten - hatte er schnell das Gefühl, zum falschen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Versagensängste hatte er dabei nicht - es war noch schlimmer: Er fühlte sich schuldig. Im November 2011 hatte sich Wales' Nationaltrainer Gary Speed das Leben genommen. Speed, der ehemalige Flügelstürmer von Newcastle United, und Coleman kannten sich, seit sie zehn Jahre alt waren. Sie spielten zusammen in den Jugendteams von Wales und später in der Nationalmannschaft, in den Teamhotels schliefen sie im selben Zimmer, sie waren so ziemlich die dicksten Kumpel, die es im Profifußball gab. Coleman bekam zwei Monate nach Speeds Freitod den Job seines Freundes. "Ich fühlte mich, als hätte ich ihn hintergangen, denn ich saß auf seinem Platz. Es war der Horror für mich", wird Coleman in Chris Wathans Buch Together Stronger zitiert, das Wales' Wiedergeburt als Fußballnation dokumentiert.

Die bedrückten Nationalspieler sahen den von Selbstvorwürfen geplagten Coleman und dachten unweigerlich an Gary Speed. "Ich wollte Cookie nicht als Trainer haben", erzählte der frühere Nationalspieler Craig Bellamy der Times. "Das hatte gar nichts mit ihm zu tun - er war ein guter Spieler, ein guter Typ. Ich wollte einfach niemanden in dem Amt sehen, das Speed ausgeübt hatte. Es fühlte sich falsch an."

Im Waliser Lager hat man Speed nicht vergessen: Die Erinnerung an ihn ist Verpflichtung

Nach verpatzter WM-Qualifikation für 2014 mit einem 1:6 in Serbien beschloss Coleman, mit den Methoden seines Vorgängers radikal zu brechen. Die herausragende individuelle Qualität von Gareth Bale und ein wieder erstarkter Teamgeist ebneten den Weg aus der Dunkelheit nach Frankreich. An der Schwelle zur Sensation hat man Speed im Waliser Lager nicht vergessen, die Erinnerung an ihn ist Verpflichtung. "Er wäre sehr stolz auf uns und würde jede Minute hier genießen, wie wir es tun", so Coleman.

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