Wahl zum Leichtathleten des Jahres:Wie bei den Mäusen in der Fabrik

Wahl zum Leichtathleten des Jahres: Scheint zu schweben: Justin Gatlin im September beim Sieg über 200 Meter in Brüssel.

Scheint zu schweben: Justin Gatlin im September beim Sieg über 200 Meter in Brüssel.

(Foto: AFP)

Trotz Dopings zum Leichtathleten des Jahres? Justin Gatlin kann das schaffen. Diskuswerfer Robert Harting will deshalb nicht zur Wahl stehen. Der Grund: Der ungeschlagene US-Sprinter über 100 und 200 Meter könnte noch heute von den einst eingenommenen Substanzen profitieren.

Von Michael Gernandt

Als die IAAF, der Weltverband der Leichtathleten, vergangene Woche ihre mit zehn Sportlern bestückte Shortlist für die Internetwahl zum Leichtathleten des Jahres veröffentlichte und dort den umstrittenen Ex-Doper Justin Gatlin (USA) postierte, regte sich Kritik. An die Spitze der Empörten setzte sich der Berliner Robert Harting, Olympiasieger mit dem Diskus, Welt- und Europameister und wie Gatlin Kandidat für die Auszeichnung. Weil er nicht mit einem ehemaligen Dopingsünder zur Wahl stehen will, bittet Harting die IAAF inzwischen offiziell: "Streicht mich von der Liste." Ein bisher einmaliger Vorgang. Versuche der IAAF, den Deutschen umzustimmen, sind vorerst gescheitert.

In Fahrt kam die Diskussion über Gatlin, 32, den 2014 weltweit Ungeschlagenen im Sprint über 100 und 200 Meter, aber erst zu Wochenbeginn. Da bat BBC Radio in der Sendung "5 live" den norwegischen Physiologie-Professor an der Uni Oslo, Kristian Gundersen, zum Interview und erfuhr Fakten aus dessen Forschungsarbeit, die zur Aufklärung der nicht mehr für möglich gehaltenen Dominanz des Oldtimers Gatlin beitragen könnten.

Gundersen experimentierte mit anabolen Steroiden, die er weiblichen Mäusen verabreichte, dabei erkannte er einen Langzeiteffekt des Dopings. "Es könnte wahrscheinlich sein, dass die leistungssteigernde Wirkung lebenslang oder zumindest über zehn Jahre bestehen bleibt - auch beim Menschen", sagte er der BBC. "Wenn man trainiert oder Steroide nimmt, bilden sich mehr Zellkerne und größere Muskeln, setzt man die Steroide ab, verliert man Muskelmasse, aber die Zellkerne bleiben in den Muskelfasern." Das sei wie bei einer vorübergehend geschlossenen Fabrik. "Die ist bereit, wieder zu produzieren, sobald der Betrieb wieder einsetzt" (Gundersen).

Weil die fundamentale Biologie des Muskelwachstums bei Menschen und Mäusen ähnlich ist, so Gundersen, und im Prinzip jede muskelbildende Droge diesen Mechanismus auslösen kann, äußerte sich der Norweger überzeugt, dass der Mechanismus auch im Menschenmuskel arbeitet und auch noch andere Dopingmittel eine depotartige Langzeitwirkung besitzen. "Ich war aufgeregt angesichts der Klarheit des Erforschten", gestand er.

Was nun Justin Gatlin betrifft, sei seine sportliche Vita in Erinnerung gerufen. 2001 mit 19 Jahren wird der Sprinter erstmals gesperrt: für ein Jahr wegen Einnahme eines unerlaubten Mittels gegen Konzentrationsmangel; 2004 holt er olympisches 100-m-Gold und 2005 die WM-Siege über 100 m und 200 m; 2006 egalisiert er den 100-m-Weltrekord (9,77 sek.) - und wird anschließend des Testosteron-Dopings überführt. Als Wiederholungstäter erhält er eine Achtjahressperre, die später auf vier Jahre reduziert wird.

Gehören Ex-Doper auf die Kandidatenliste?

2010 kehrt er zurück in den Leichtathletik-Zirkus, er trainiert nun beim Ex-Doper Dennis Mitchell (bis 2006 übte er mit dem wegen Dopinganstiftung lebenslang gesperrten Trevor Graham); 2012 gewinnt er in London schon wieder Bronze (100 m); 2014 verliert er kein Rennen. Er schlägt in Rom Weltrekordler Usain Bolt, in Monaco verbessert sich Gatlin über 200 m auf 19,68 Sekunden und stellt zum Saisonende in Brüssel seine 100-m-Dopingbestzeit (9,77) ein. Anschließend rennt er die 200 m in 19,71: Es ist das beste je erlebte Tagesdouble.

Und die internationale Szene wundert sich: Wie macht der alte Knabe das nur? Gatlin-Manager Renaldo Nehemiah, ein ehemaliger Hürden-Weltrekordler, kennt eine Antwort: "Sein Körper hat sich vier Jahre lang ausgeruht."

Legt man aber die Gundersen-These zugrunde, könnte des Rätsels Lösung auch so lauten: Die Fabrik arbeitet wieder. So plakativ möchte die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada indes nicht argumentieren. Sie hat am Mittwoch wohl Gundersens Entdeckung begrüßt, aber auch verlangt: "Wir brauchen Beweise, dass wir solche Resultate auf Menschen übertragen können", erklärte Wada-Wissenschaftsdirektor Oliver Rabin, "wir können eine Menge Dinge mit Mäusen machen, die wir nicht mit Menschen machen können." Sollte der Nachweis aber wirklich gelingen, hätte das wohl Konsequenzen für den Strafenkatalog der Wada. Deren Regelsperre wurde gerade von zwei auf vier Jahre erhöht.

Unabhängig vom Ausgang der Forschung wird eine Weiterung für die IAAF unumgänglich sein: Ex-Doper gehören künftig nicht mehr auf die Kandidatenliste, und wenn sie noch so schnell rennen. Dass dies 2014 anders ist, mag an der Einstellung der IAAF zu Dopingsündern liegen, die ihre Strafe abgesessen haben: Sie möchte sie nicht zweimal für dasselbe Vergehen bestrafen. Nun muss der Weltverband hoffen, dass die von Harting und indirekt von Gundersen entfachte Gatlin-Debatte die IAAF vor der Peinlichkeit bewahrt, den einstigen Doper zum Leichtathlet des Jahres gekrönt und fürstlich entlohnt zu sehen.

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