Voß reißt erfolgreich aus:Aufmerksamkeit für einen Tag

German Paul Voss of Bora Argon 18 celebrates on the podium in the red polka dot jersey for best clim

Helfende Hände fürs neue Hemd: Nach seinem erfolgreichen Ausreißerversuch beim Tour-Start schlüpft Paul Voß ins gepunktete Bergtrikot.

(Foto: Belga/Imago)

Paul Voß, 30, ist einer der vielen Helfer der Tour. Als erst sechster Deutscher schafft er es ins Bergtrikot.

Von Johannes Aumüller, Cherbourg/Utah Beach

Im scharfen S dokumentiert sich bestens das jahrelange Dasein als weitgehend unauffälliger Dahinstrampler. Auf seiner eigenen Internetseite und in den sozialen Netzwerken stellt sich der 1,78 Meter große Mann mit den kurz geschorenen Haaren unmissverständlich als "Paul Voß" vor, in der Rad-Szene hingegen ist er meist als "Paul Voss" zu finden - nicht nur in den Ländern, deren Sprachen ohne ß auskommen müssen, sondern auch in Deutschland. Selbst sein eigenes Team Bora-Argon führt ihn in der Kaderliste auf der Internetseite mit Doppel-S.

Seit Samstag aber sind die Chancen gestiegen, dass Paul Voß/ss seinen Nachnamen künftig in einheitlicher Form lesen darf. Sehr zufrieden, aber nicht sonderlich überdreht stand er nahe des geschichtsträchtigen Strandes von Utah Beach in der Normandie und absolvierte einen seltenen Interview-Marathon. Ein schöner kleiner Coup war ihm zum Tour-Start gelungen, als er aus einer Fluchtgruppe heraus zwei Bergwertungen der vierten Kategorie gewann und sich so einen Tag im rotgepunkteten Berghemd verdiente. "Anfangs dachte ich mir, es war eine dumme Idee", sagte Voß ob des Kraftaktes: "Eigentlich könnte ich jetzt mit dem Trikot auf den Schultern nach Hause fahren." Das tat er freilich nicht, dafür trug er es stolz am Sonntag auf der zweiten Etappe nach Cherbourg und versuchte, es mit einem weiteren Kraftakt zu verteidigen. Erneut war er in einer Ausreißergruppe, aber am Ende verlor er das Trikot an Jasper Stuyven (Belgien)

. Es gibt in den ersten Tour-Tagen traditionell ein paar spezielle Strategien, mit denen Fahrer oder kleinere Teams Aufmerksamkeit und Marketingerfolge erzeugen können. Eine davon lautet, bei den kleinen Bergwertungen auf den ersten Etappen vorne zu sein und sich so das gepunktete Trikot zu erobern, um das später die Kletterspezialisten kämpfen. Mit dieser Strategie kam anno 2000 selbst der Sprinter Marcel Wüst schon mal ins Bergtrikot, vor zwei Jahren auch Jens Voigt. Und dieses Mal also Paul Voß, 30, geboren in Rostock, inzwischen in Bielefeld zu Hause und anders als viele Radsport-Konkurrenten mit der Gabe ausgestattet, auch über andere Dinge als über "gute Beine" berichten zu können. Seine Freundin ist Engländerin, zuletzt meldet sich Voß über seine sozialen Kanäle öfter mit kritischen Beiträgen zum Brexit zu Wort als mit Details zur Tour-Vorbereitung. "Ich halte das für wichtig, dass man sich da europäisch engagiert und nicht alles passieren lässt", sagte er in Utah Beach.

Voß ist erst der sechste Deutsche, der jemals das Bergtrikot holte

Außerdem steht Voß durchaus stellvertretend für diverse deutsche Radprofis aus dem oft so anonymen Mittelfeld. Ihr Sport hat es hierzulande ohnehin schwer, die Skepsis in weiten Teilen des Publikums ist nach den zahlreichen Dopingskandalen der vergangenen Jahre immer noch ebenso groß wie berechtigt. Viele Fans haben sich abgewandt, für einen stark erhöhten Bekanntheitsgrad braucht es schon die Zugehörigkeit zur absoluten Spitze des Pelotons, die Endschnelligkeit von André Greipel oder Marcel Kittel, die Zeitfahr-Qualitäten von Tony Martin oder die Allrounder-Fähigkeiten von John Degenkolb - und für einen leicht erhöhten Bekanntheitsgrad zumindest den Bart von Simon Geschke.

Aber daneben gibt es halt noch zirka drei Dutzend andere deutsche Fahrer mit Profilizenz, viele von ihnen sind Helfer und Wasserträger und Sprint-Anfahrer, Athleten, deren Wert die Branche richtig zu schätzen weiß, die breite Masse eher nicht. Voß ist einer, der von allem ein bisschen kann: ganz ordentlich sprinten, recht gut klettern, auf flachen oder mittelschweren Etappen immer mal wieder in eine Ausreißergruppe springen. Aber all dies genügt halt nicht, um dauerhaft in den Fokus zu rücken. Und so fährt er seit fast zehn Jahren durchs Peloton, gewann mal eine Etappe der Katalonien-Rundfahrt, das niederklassige Cinturó De L'empordà oder im Jahr 2011 für einen Tag das Bergtrikot beim Giro d'Italia. Richtig berühmt wird man so allerdings nicht.

Sein Vertrag beim Team Bora läuft zum Jahresende aus

Jetzt hat es Voß zumindest für kurze Zeit ins Zentrum geschafft, indem er als erst sechster Deutscher der Tour-Geschichte das Berghemd eroberte - und mit ihm das Team Bora. Das startet noch als Zweitliga-Team mit Wildcard; dank eines neuen Sponsors und der Aufstockung des Budgets auf einen wohl zweistelligen Millionenbetrag will es bald weiter vorne vertreten sein. Voß' Vertrag läuft aus, er weiß, dass er wohl nicht mehr viele Interview-Marathons bestreiten muss. Ob er sich für eine Etappe dieser Tour, seiner bisher zweiten, noch mal etwas besonderes vorgenommen hat? Gar nicht, "ich bin nicht der Fahrertyp, der es sich aussuchen kann, wann er schnell fährt".

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: