Vorletzter Tag der Leichtathletik-WM:Instinktwurf ins Glück

Er ist kein Kraftmeier, dafür aber ein feiner Techniker: Speerwerfer Matthias de Zordo schleudert seinen ersten Versuch auf 86,27 Meter, dann verletzt er sich - doch am Ende reicht es zum dritten WM-Gold für die deutschen Werfer. Usain Bolt zeigt sich gut erholt von seinem Fehlstart über 100 Meter und deklassiert einmal mehr die Konkurrenz. Einer australischen Hürdenläuferin gelingt derweil Erstaunliches.

Von Thomas Hahn, Daegu

Das WM-Finale der Speerwerfer ging weiter im mächtigen, gut gefüllten Stadion von Daegu, und Matthias de Zordo legte die Beine hoch. Um ihn herum war viel Bewegung, die Konkurrenten stapften umher mit ihren Möbelpackerfiguren, imitierten Wurfbewegungen, hielten sich warm. Aber Matthias de Zordo hatte seit seinem zweiten Versuch ein Problem mit dem Knöchel. Er war nach seinem Sturz beim Anlauf sogar mal rausgelaufen, um sich ein Schmerzpflaster anlegen zu lassen.

Daegu 2011 IAAF World Championships

Matthias de Zordo ist Weltmeister - dabei hatte er mit solchen Erfolgen überhaupt nicht gerechnet. 

(Foto: dpa)

Als sein dritter Versuch fällig war, war er einfach nicht da. Jetzt war er zurück in der Speerwurfzone, aber er konnte nicht gleich wieder loslegen. Er ließ auch den vierten Versuch aus. Er räumte ein bisschen an seinem Platz herum, griff nach einem Speer, testete den Knöchel, setzte sich wieder. Zum fünften Versuch trat er wieder an. 82,88 Meter, nichts Besonderes. Er humpelte zurück zu seinem Platz, er sah, was die Konkurrenz machte. Wenig später saß er wieder auf der Bank und weinte. Auf der Tribüne saß sein Trainer Boris Henry und weinte auch. Es waren Tränen des Glücks. Matthias de Zordo war Weltmeister.

Ein guter erster Versuch reicht manchmal zum ganz großen Erfolg. 86,27 Meter waren Matthias de Zordos Auftaktgebot gewesen, Saisonbestleistung, heftig bejubelt vom EM-Zweiten aus Saarbrücken - danach kam nichts mehr von der Konkurrenz. Andreas Thorkildsen, der Titelverteidiger, Europameister, Olympiasieger und Weltjahresbeste (90,61), hätte von sich eigentlich erwartet, de Zordo noch abzufangen. Er kriegte es nicht hin. "Ich bin nicht reingekommen in den Wettkampf", sagte er und gab sich widerwillig mit 84,78 Metern zufrieden, die immerhin reichten, den Kubaner Guillermo Martinez (84,30) auf den Bronze-Rang zu distanzieren.

Thorkildsens Schwäche war ein Faktor bei seinem Sieg, das wusste Matthias de Zordo selbst: "Ich hatte das Glück, dass Andreas heute nicht in guter Form war", sagte er. Trotzdem: Er war ein verdienter Sieger. Gold trotz Knöchelweh, trotz Raus- und Reinlaufen und ausgelassenen Versuchen - das muss man auch erst mal schaffen. Sein zweiter Versuch hätte ihm immer noch den Sieg gebracht (85,51). Und wer weiß, ob er nicht noch zugelegt hätte, wenn er den Rest des Wettkampfes ohne Probleme bestritten hätte.

Der vorletzte Tag der WM ist eigentlich als Usain-Bolt-Tag vorgemerkt gewesen. Und der Dreifach-Weltrekordler aus Jamaika ist dann auch tatsächlich wieder ziemlich umjubelt worden. Seine Fehlstart-Geschichte vom 100-Meter-Finale hatte er schon am Freitag zu den Akten gelegt, als er mit gewohnter Lässigkeit und Spaß-Pantomimen den Vorlauf und das Halbfinale abarbeitete und erklärte: "Ich hatte nie Angst davor, zurückzukommen." Am Samstag führte er sein Schauspiel fort. Dazu rannte er schnell wie der Wind: Sieg in 19,40 Sekunden, womit er ein Stück weit weg war von seinem Weltrekord, den er bei der WM 2009 aufgestellt hatte (19,19), und ein bisschen auch von seiner zweitbesten Zeit, erzielt beim Olympiasieg in Peking 2008 (19,30).

Bolt war nervös

Aber immer noch schnell genug für einen prominenten Eintrag in der ewigen Bestenliste: nur er selbst und Michael Johnson (19,32 im Jahr 1996) sind je schneller auf der halben Stadionrunde unterwegs gewesen. Und anschließend erklärte Usain Bolt seinen Aussetzer vom vergangenen Sonntag. Nach intensivem Starttraining sei er zu begierig gewesen, auf die Bahn zu kommen: "Es war die Aufregung." Was er gelaufen wäre ohne Fehlstart? "Niedrige Neun-Sieben, Neun-Sechs", schätzte er - leise Töne sind sein Ding bekanntlich nicht.

Aber die bemerkenswerteste Leistung des Abends brachte Sally Pearson. Die Weltjahresbeste aus Australien gewann über 100 Meter Hürden in 12,28 Sekunden, womit sie sich auf Platz vier der ewigen Bestenliste setzte und gar nicht weit weg war vom Uralt-Weltrekord der Bulgarin Yordanka Donkova (12,21 im Jahr 1988). Seit den steroid-satten achtziger und neunziger Jahren ist keine Frau mehr so schnell durch die Hürdengerade geeilt, prompt nannte Sally Pearson den Weltrekord "sehr erreichbar".

Aus Sicht des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) war natürlich Matthias de Zordo der große Bringer. Sechs Medaillen hat der DLV nun schon auf seinem Konto, drei davon sind aus Gold nach den bisherigen Siegen von Diskuswerfer Robert Harting, dem 21-jährigen Kugelstoßer David Storl und nun eben de Zordo. Und Matthias de Zordo, 23, gehört dabei zu jener Riege junger Sieg-Leichtathleten, an denen der DLV noch lange seine Freude haben dürfte. Wie Storl gehört er außerdem zum Typus des Instinktwerfers, der seine Bestweiten weniger mit brachialer Gewalt als vielmehr mit Dynamik und technischer Raffinesse bewerkstelligt.

Trainer Boris Henry kann ausführlich über de Zordos ausbaufähige Kraftwerte lästern, aber genauso schwärmt er vom Bewegungsbild bei Ausholbewegung und Abwurf seines Schützlings. Matthias de Zordo kann Dinge, die man sich nicht so einfach antrainieren kann, und damit wirkt seine Sportler-Karriere für die nächsten Jahre ziemlich belastbar.

Der WM-Titel kommt jedenfalls früher als geplant. Für Olympia 2012 in London wollte Boris Henry de Zordos Athletik verbessern, denn: "Dann kann er vielleicht Thorkildsen ärgern." Jetzt muss der Trainer feststellen: Matthias de Zordo hat Andreas Thorkildsen schon in Daegu mehr als geärgert.

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