Vonn gewinnt auf der Kandahar:Tanz in Skistiefeln

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Nach zehn Monaten Pause gleich der Abfahrtssieg in Garmisch: Die Amerikanerin Lindsey Vonn hat von ihrem überragenden Fahrgefühl nichts eingebüßt.

Von Matthias Schmid, Garmisch-Partenkirchen

Als Lindsey Vonn nach der Ziellinie abschwang, hob sie kurz ihren Blick. Es leuchteten rote Ziffern auf. Rot auf der Anzeigetafel bedeutet im alpinen Skisport, dass die Rennläuferin die Bestzeit verfehlt hat. Im Leben von Lindsey Vonn, 32, zählen nur grün unterlegte Zahlen, triumphale Siege. Sie liebt die große Bühne, das Rampenlicht. Also nahm die Amerikanerin am Sonntag grußlos den schnellsten Weg raus aus dem Zielraum, durch die Hintertür verließ sie den Super-G von Garmisch-Partenkirchen, den sie auf dem neunten Platz mit einem Rückstand von 1,65 Sekunden auf die Gewinnerin Lara Gut beendete.

"Es war der emotionalste Sieg meiner Karriere": Lindsey Vonn nach der Abfahrt in Garmisch-Partenkirchen. (Foto: Stephan Jansen/dpa)

Wie sehr sie die grünen Bestzeiten vermisst hat, hatte Vonn am Tag davor bei jeder Gelegenheit betont. Sie gewann die Abfahrt, nach zehnmonatiger Leidenszeit wegen verschiedener Brüche im Bein und am Oberarm holte sie ihren 77. Weltcupsieg. Schon als klar war, dass ihr keine Läuferin den ersten Erfolg seit fast einem Jahr - ebenfalls in Garmisch - mehr streitig machen konnte, ließ sie sich nur noch von ihren Emotionen treiben. Es waren ausgefallene Emotionen, irgendwo zwischen Freude und Verwirrung, sie folgte ihnen zu den Klängen einer Blaskappelle aus der Schweiz, die im Zielraum schon die ganze Zeit über ziemlich schräg und falsch spielte. Doch das schreibt eben die Vereinsordnung der sogenannten "Guggenmusik" vor, sie musizieren schräg und falsch - und Vonn tanzte mit zu den wilden Rhythmen. Minutenlang bewegte sich die 32-Jährige in Skistiefeln so geschmeidig, als würde sie barfuß tanzen. "Das hat Spaß gemacht", sagte Vonn, "ich habe viel geweint heute und etwas getanzt."

Dass sie am Samstag von ihren Gefühlen überwältigt wurde, sah man an der Wimperntusche, die ihr ins Gesicht rann. Außerdem war sie sprachlos. Vonn ist eigentlich eine eloquente Rednerin, die sich auf Englisch und Deutsch treffend auszudrücken vermag. "Doch jetzt fehlen mir die Worte", gestand sie ehrlich: "Das ist einfach nur unglaublich."

Es ist in der Tat eine bemerkenswerte Geschichte, die Vonn am Samstag beim 64. Kandahar-Rennen in Garmisch-Partenkirchen geschrieben hat. Nur eine Woche nach ihrer Rückkehr bei der Abfahrt von Zauchensee und der "mental schwierigsten Zeit", wie sie die Reha nannte, stand sie wieder ganz oben auf dem Treppchen. Auch ihre Rivalinnen begegneten ihrem Sieg mit Bewunderung. "Das war beeindruckend", fand die Abfahrtsdritte Viktoria Rebensburg, "weil man an ein paar Stellen gesehen hat, dass sie noch gezögert hat. Aber sie kann halt so gut die langen Schwünge fahren, um die maximale Geschwindigkeit aus der Kurve mitzunehmen." Auch Wolfgang Maier nannte Vonn "eine Nummer, die jeder gerne in seinem Verband hätte". Doch der deutsche Alpindirektor konnte sich angesichts der erstaunlichen Überlegenheit einen spöttischen Kommentar nicht verkneifen. "Die anderen Rennfahrerinnen müssen sich schon fragen", sagte Maier, "wie es sein kann, dass jemand, der ein Jahr lang nicht fährt, nur zwei Rennen bestreitet und wieder gewinnt."

Vonn waren die Anmerkungen gleichgültig, als sie ihre Sprache wiederfand. Den 39. Sieg in einer Abfahrt ordnete sie als einen der wichtigsten ihrer Karriere ein, "in jedem Fall war er mein emotionalster." Am Ende hatte Vonn 15 Hundertstelsekunden Vorsprung auf die Zweitplatzierte Lara Gut und 0,48 Sekunden auf Rebensburg, deren erster Podestplatz seit fast einem Jahr ein bisschen unterging.

Die Bedingungen am Samstag unter blauem Himmel, hatten Vonn begünstigt. Der einzige Sprung am Ausgang des Tröglhangs wurde nach dem Training abgetragen. Es blieb ein "Hupferl" , übrig, wie manche Athleten despektierlich meinten. Vonn mag einen hohen Luftsprung nicht besonders, sie muss die Skier auf dem Boden spüren, erst dann kann sie ihr famoses Fahrgefühl voll entfalten. Nach dem 13. Rang in Zauchensee hatten sie Selbstzweifel geplagt, sie fragte sich, wann sie denn wieder mit Selbstvertrauen runterfahren könnte. Denn seit ihrer Oberarmoperation im November, als sie ohne Gefühl im Arm aufwachte, weil einige Nervenbahnen beschädigt waren, konnte sie die schnelleren Disziplinen nicht mehr fachgerecht trainieren. "Jeder vergisst, wie viel Zeit und Energie, wie viel Blut, Schweiß und Tränen es braucht, um ohne Training zurückzukommen", sagte Vonn. Sie kommt seit September gerade mal auf die drei vorgeschriebenen Trainingstage, ohne die sie im Rennen gar nicht starten dürfte. Deshalb will sie vor den nächsten Rennen in Cortina erst mal richtig Ski fahren, Technik und saubere Schwünge üben, "damit ich auch im Super-G wieder schneller fahre", wie sie sagt. Auf der Anzeigetafel muss unbedingt wieder eine grüne Zeit leuchten, wenn sie über die Ziellinie rast.

© SZ vom 23.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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