Vladimir Petkovic:"Wir haben unseren Stil. Den ändern wir nicht, nur weil Brasilien der Gegner ist"

WM 2018 - Training Schweiz

Der schweizer Coach Vladimir Petkovic.

(Foto: Laurent Gillieron/dpa)

Der Trainer der Schweiz spricht über seinen Werdegang und die Chancen seiner Mannschaft in Russland.

Interview von Daniel Visentini

Beim Gespräch im Saal eines Grand Hotels hat Petkovic ein Glas Wasser vor sich und oft ein Lächeln auf den Lippen, er zeigt seinen Charme. Er macht aber auch klar, wie fest seine Überzeugungen sind. Und wie groß seine Ambitionen. Als es darum geht, welche Rolle die Schweiz spielen kann in der Gruppe mit Brasilien, dem fünfmaligen Weltmeister, sagt er: "ich strebe immer das höchstmögliche Ziel an. Das ist in diesem Fall der erste Platz."

Vladimir Petkovic, was ist Ihre erste Erinnerung an eine Weltmeisterschaft?

Ich erinnere mich relativ gut an die WM in Deutschland 1974. Das war die Zeit, in der ich begonnen habe, richtig ernsthaft Fußball zu spielen, und darum auch gewisse Dinge wirklich verstanden habe. Da war ich zehn Jahre alt.

Und schon in diesem Alter wollten Sie Fußball nicht nur spielen, sondern auch verstehen?

Oh, das hat sogar schon früher angefangen. Schon als ich drei Jahre alt war, hat mich mein Vater mit auf die Ersatzbank genommen (Petkovics Vater war Trainer bei kleineren Clubs). Diesen Geruch der Garderobe, diese Atmosphäre des Fußballs, das kenne ich seit jeher. Aber das Verständnis kommt mit der Erfahrung. Und ehrlich gesagt, ist dieser Prozess noch immer nicht beendet.

Wenn man die WM 1974 mit dem heutigen Fußball vergleicht, ist der Unterschied enorm, oder?

Das liegt am Rhythmus! Es gab schon damals Stars. Es gab schon damals unglaubliche Techniker oder teuflische Freistöße. Aber die Physis der Spieler, die völlige Verdichtung des Spiels, die Professionalität mit den modernen technischen Mitteln, das alles ergibt eine riesige Differenz. Und dann gibt es eine neue Art der Vorbereitung, die mit den neuen Informationsmitteln entstanden ist, mit dem Internet, mit den sozialen Netzwerken und so weiter. Die Jungen sind schneller bereit für diese Welt. Weil all das in ihren Handys oder Tablets steckt.

Ist das Ende der Fahnenstange erreicht, was die Professionalisierung betrifft?

Nein, wir sind erst etwa in der Mitte des Weges. Wenn wir American Football anschauen, mit all den verschiedenen Trainern, wenn ich das Handball-Nationalteam Frankreichs sehe und die Hilfsmittel, mit denen es arbeitet, dann gibt es noch viele Dinge, die man lernen kann.

Haben Sie etwas bei einer anderen Sportart entdeckt, das Sie nun bei der Schweizer Nationalmannschaft anwenden?

Wie bei uns erhalten die Spieler beim französischen Handball-Nationalteam Videosequenzen ihrer Gegner, über die sie danach mit dem Nationaltrainer sprechen. Aber bei ihnen werden die taktischen oder strategischen Entscheidungen nach diesen Gesprächen getroffen. Sie liegen zwar weiter in der Verantwortung des Trainers. Aber jeder hat seine Ideen eingebracht, was ein sehr interessanter Ablauf ist. Das erlaubt es, verschiedene Optionen abzuwägen. Ich mache das jetzt auch ein wenig mit der Schweiz. Ein ganz klein wenig nur. Die französischen Handballer sind das seit den Junioren-Auswahlen gewohnt. Aber es ist etwas, das mich inspiriert und das wir noch weiter entwickeln können.

Gibt es eine Petkovic-Methode, um eine Gruppe zu führen?

Zunächst ist es für mich grundsätzlich wichtig, die Menschen persönlich zu kennen, mit denen ich eine Beziehung habe. Der Mensch kommt vor dem Spieler. Ich muss spüren, was das für eine Person ist, die mir gegenübersteht. Und sie muss spüren, wer ich bin. Ebenso ist es wichtig, dass alle verstehen, dass die Mannschaft wichtiger ist als der Einzelne. Und dass jeder davon profitiert, wenn die Mannschaft eine Einheit ist. Die Spieler sind vielleicht alles Stars, aber wir können nur als geschlossene Mannschaft etwas erreichen. Und ich rede da nicht nur von den elf Spielern in der Startformation, sondern von der ganzen Schweizer Familie. Danach kommt das, was auf dem Platz passiert. Da können individuelle Fähigkeiten natürlich wichtig sein. Aber nichts geht ohne Mannschaft.

Wie wichtig ist Psychologie für Sie? Sie waren ja im Tessin Sozialarbeiter.

Jene Arbeit hilft mir heute ganz sicher, wie mein ganzer Lebenslauf. Als ich angefangen habe, in der Schweiz zu spielen, musste ich kämpfen und mich jeden Tag auf dem Platz beweisen. Nicht um zu überleben, aber um neue Erfahrungen machen zu können. Dasselbe galt für die Arbeit mit Arbeitslosen, auch da nimmst du etwas mit. Und dasselbe gilt noch heute: Es ist ein Lernprozess ohne Ende. Jeder Tag ist ein Neubeginn, man muss immer bereit sein, sich infrage zu stellen. Das gilt auch für den Fußball: Aus jedem Spiel musst du deine Lehren ziehen und Erfahrungen mitnehmen. Ich habe viel gelesen, vieles ausprobiert. Und das tue ich weiter. Ich analysiere, und danach kombiniere ich, was ich anwenden will. Ein Trainer ist immer auch so etwas wie ein Verkäufer.

Der was verkauft?

Zuversicht, eine taktische Vision, technische Ideen, mentale Kraft. All das muss man verkaufen, aber die Spieler müssen es einem auch abkaufen. Denn wenn du etwas anbietest, das niemand haben will, bringt es nichts.

Was erwarten Sie von der WM?

Wir haben eine sehr schwierige Gruppe erwischt. Wenn man die Qualifikation anschaut, sieht man, dass alle unsere Gegner sehr stark sind. Costa Rica hat bei der letzten WM bewiesen, zu was es fähig ist. Auch die Serben können gefährlich werden. Sie hatten ihre Probleme, aber sie haben eine Lösung gefunden. Heute funktionieren sie als Einheit. Und dann ist da noch Brasilien. Wir müssen Brasilien schlagen, um uns von Anfang an in eine gute Ausgangslage zu bringen.

Stehen Sie so vor Ihre Mannschaft: mit der Botschaft, dass sie Brasilien schlagen muss?

Ja. Ich muss die Spieler nicht motivieren, eher sogar bremsen. Wissen Sie, es ist einfach, gegen so ein Team zu spielen mit all seinen Stars. Wobei es natürlich schwierig ist, weil beim Gegner so viele Ausnahmekönner spielen. Es ist so: Die Brasilianer sind Favoriten, das ist klar, sie wissen es selbst. Aber glücklicherweise ist im Fußball immer alles möglich. Wenn die Brasilianer hundert Prozent ihres Potenzials abrufen, ist die Wahrscheinlichkeit zweifellos grösser, dass sie gewinnen. Aber es reicht schon, wenn ihnen hier oder dort zehn Prozent fehlen, und schon sieht alles ganz anders aus.

Die Schweiz will normalerweise viel Ballbesitz haben und dem Gegner ihr Spiel aufzwingen. Werden Sie das gegen Brasilien ändern?

Sicher nicht. Wir haben seit Jahren unseren Stil. Und den behalten wir auch für die WM bei. Wir können nicht unsere Mentalität und unseren Stil in jedem Spiel dem Gegner anpassen. Das wäre ein Fehler. Gewisse kleine Dinge muss man beachten, das ist klar. Aber wir müssen immer den Willen haben, unser Spiel durchzubringen, den Gegner zu dominieren und Tore zu schießen. Schließlich ist das die einzige Art, um ein Spiel zu gewinnen.

Wenn man mit Brasilien in einer Gruppe ist: Ist es dann das Ziel, Gruppenzweiter zu werden - oder geht es doch um den ersten Platz?

Ich strebe immer das höchstmögliche Ziel an. Das ist in diesem Fall der erste Platz. Und danach geht es darum, so weit zu kommen, wie nur möglich. Und ja, dieses erste Spiel ist sehr wichtig.

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