Vierschanzentournee in Oberstdorf:Winterfarce am Schattenberg

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Weltmeister Gregor Schlierenzauer gewinnt bei widrigsten Verhältnissen den Auftakt der Vierschanzentournee in Oberstdorf. Der Österreicher siegt vor zwei Landsleuten. Die Deutschen sind dennoch zufrieden. Der Norweger Tom Hilde hingegen bricht sich bei einem Sturz einen Wirbel.

Thomas Hahn, Oberstdorf

Die Menge tanzte geduldig und schaute immer wieder zur Schattenbergschanze hinauf, die hell erleuchtet in den Nachthimmel von Oberstdorf ragte. Passierte noch was oder passierte nichts mehr nach dem ersten Durchgang, welchen die Jury wegen des Windes abgebrochen, neu gestartet und schließlich auch durchgebracht hatte?

Gregor Schlierenzauer jubelt: Der Österreicher gewinnt den Auftakt der Vierschanzentournee. (Foto: REUTERS)

Es ist schon vorgekommen, dass wichtige Springen wie dieses zum Auftakt der 60. Vierschanzentournee vor dem zweiten Durchgang abgebrochen wurden und das Ergebnis des ersten als Endergebnis galt.

Es dauerte eine Weile, die Jury hatte sich beraten. Alle warteten. Dann ging der Wettkampf tatsächlich weiter, und eine halbe Stunde stand fest, wer gut in die prestigeträchtige Tournee hineingefunden hatte und wer nicht. Die Österreicher natürlich nach anfänglichen Schwierigkeiten: Gregor Schlierenzauer gewann vor Andreas Kofler vor Thomas Morgenstern. Und auch die Deutschen zeigten sich gut aufgelegt mit Severin Freund auf Platz vier, Stephan Hocke auf Platz acht und Richard Freitag auf Rang zehn.

Einen ziemlich bewegten Tournee-Auftakt haben die Skispringer hinter sich gebracht an diesem verschneiten Freitagabend in Oberstdorfs Arena vor 20.500 Zuschauern, und vor allem einen, dem eine ausführliche Diskussion folgen dürfte. Thema: die sogenannte Windregel, nach welcher der Weltski-Verband Fis seit der vergangenen Saison Vor- und Nachteile durch die Luftbewegungen mit Anlauflänge und Weiten verrechnen kann.

Die Regel ist ein faszinierendes Beispiel höherer Mathematik, sie bietet der Fis-Jury die schöne Möglichkeit, einen Wettkampf auch bei windigen Bedingungen ohne Verzögerungen durchzuziehen und für die Athleten trotzdem einigermaßen die Chancengleichheit zu wahren. Das Problem ist nur: Die Windregel verleitet auch dazu, den Wettkampf bei so komplizierten Bedingungen durchzuziehen, dass selbst Könner keine Chance mehr auf vernünftige Weiten haben und so früh landen, dass sich der Nachteil auch nicht mehr wegrechnen lässt.

Schon in Training und Qualifikation am Donnerstag hat man prominente Abstürze erleben können. Nach zwei Fast-Sturz-Erfahrungen teilte Tournee-Titelverteidiger Thomas Morgenstern in seinem Online-Tagebuch sogar mit: "Ich kann von Glück reden, dass ich heute in meinem Bett anstatt im Krankenhaus schlafen darf."

Und noch extremer ging es am Wettkampftag im ersten Durchgang. Ehe die Fis ein Erbarmen hatte und auf Neustart entschied, hatte es einige bekannte Leute unwürdig früh in den Hang gedrückt. Den österreichischen Weltmeister Gregor Schlierenzauer zum Beispiel oder dessen Team-Weltmeister-Kollegen Martin Koch. Österreichs Cheftrainer Alexander Pointner verfolgte kopfschüttelnd und mit Ohnmachtsgesten das Geschehen, und nach dem abgebrochenen ersten Teil dieser Winterfarce wies er mit leiser Wut in der Stimme darauf hin, dass es nach den alten Regeln springerfreundlicher zugegangen wäre. "Hier werden Sportler vorgeführt, die Aushängeschilder unseres Sports sind", sagte Pointner in der ARD.

Nach dem Neustart ist der Wettkampf auch kein reines Vergnügen gewesen, aber der Schneefall hatte nachgelassen und die Luft war etwas ruhiger. Mancher konnte die zweite Chance nutzen, mancher nicht.

Schlierenzauer brachte sich zurück ins Spiel mit einem Satz auf 133 Meter, den er im Halbtiefschnee allerdings nur mühsam stand. Koch landete wieder früh und rettete sich knapp in den zweiten Durchgang.

Und die Deutschen? Freitag, der junge Weltcup-Gewinner von Harrachov, der zunächst entzaubert wirkte mit seinen 107,5 Metern und mit einer Niederlage im K.o.-Duell gegen Wolfgang Loitzl, schaffte im zweiten Versuch 121 Meter und setzte sich doch noch durch. Freund war vorher gut (124 Meter) und nach dem Neustart auch (129). Dafür steigerte sich der frühere Weltmeister Martin Schmitt zu wenig, schied gegen seinen jungen Landsmann Markus Eisenbichler aus und ärgerte sich mehr über sich als über die Verhältnisse.

Es ist überhaupt auffallend gewesen, dass die Deutschen wenig über äußere Bedingungen sprachen, sondern mehr über sich selbst, wenn sie ihre Leistungen bewerten sollten. Vor allem Freitag suchte keine Ausflüchte. In der Qualifikation sprang er nur 109,5 Meter und nahm den Wind in Schutz: "Das wurde von mir entschieden. Kleiner Fehler oben am Schanzentisch." Selbst als er sich sicher für den zweiten Durchgang qualifiziert hatte, nörgelte er an sich herum: "Das war noch nicht das."

Und Severin Freund, den das Wetter am wenigsten zu interessieren schien ("Mir macht's schon Spaß"), sprach trotz Platz vier zur Halbzeit von irgendwelchen Millimeter-Fehlern, die er lieber nicht gemacht hätte. Aber als das Ergebnis feststand, konnten die Deutschen doch ein bisschen stolz sein darauf, letztlich so gut durch diese schwierigen Tage gekommen zu sein.

Wobei eine bange Frage am Ende zunächst offen blieb. Der Norweger Tom Hilde war im zweiten Durchgang nach der Landung zu Sturz gekommen. Er winkte ins Publikum, als Sanitäter in aus dem Stadion transportierten. Aber es war nicht gleich klar, ob er sich verletzt hatte in diesem seltsam wechselhaften Wettstreit am Schattenberg.

Anmerkung der Redaktion: Diese Frage klärte sich am Samstag: Der Norweger Tom Hilde hat sich bei seinem schweren Sturz im Auftaktspringen der Vierschanzentournee den achten Wirbel gebrochen. Die Tournee ist damit für den 24-Jährigen beendet, Hilde liegt zur Beobachtung und weiteren Untersuchungen im Krankenhaus in Immenstadt. Dies teilte Clas Brede Braathen, Sportdirektor des norwegischen Skisprung-Teams, am Samstag mit. "Ich habe gerade mit einem Spezialisten gesprochen. Er war positiv", twitterte Hilde.

© SZ vom 31.12.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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