Vierschanzentournee:Rätsel für die Skispringer-Seele

Ski Jumping World Cup

Ob Severin Freund schon bereit ist für den Höhepunkt der Skisprung-Saison, wird sich erstmals beim Tournee-Auftakt in Oberstdorf zeigen.

(Foto: Urs Flueeler/dpa)

Für Severin Freund beginnt die Vierschanzentournee eigentlich zu früh. Aber seine Form könnte gerade rechtzeitig aus ihrem Versteck kommen.

Von Volker Kreisl, Oberstdorf

Es ist eine ziemlich einfache Frage, eine Pflichtfrage an den Vorjahressieger. Sie ließe sich mit zwei Standardsätzen beantworten, die nichtssagend wären und doch so emotionsgeladen, dass sie überall gedruckt würden. Irgendetwas mit "Power", "Motivation" und "Push" könnte man antworten auf die Frage, ob einem der großartige Skisprung-Heimsieg bei der Vierschanzentournee vor genau einem Jahr hier in Oberstdorf auch heute noch helfe. Aber der Niederbayer Severin Freund ist da anders.

"Klar, es ist noch eine schöne Erinnerung da, aber ich versuche nicht, das noch irgendwie zwanghaft herzuholen", sagte der 28-Jährige und suchte weiter nach den passenden Worten: "Denn ich bin nicht der Typ, der sich bewusst in irgendeinen emotionalen Zustand versetzt, um Erfolg zu haben. Ich will mich nicht von so einem Zustand abhängig machen, um Leistung zu bringen."

Die Skispringer sind vielleicht die Philosophen des Sports, denn sie sind ständig mit großen Rätseln wie Glück, Zeit, Geist und Seele beschäftigt, und Freund, der in München Internationales Management studiert, verfügt über die Sprache, um das ständige innere Ringen auf den Punkt zu bringen. "Das Glück kannst du sowieso nicht festhalten", hat er zum Beispiel nach dem Team-Olympiasieg vor knapp zwei Jahren gesagt. Und auch jetzt, da er - zusammen mit Markus Eisenbichler - trotz einer langen Verletzungsgeschichte wieder die größte Hoffnung des Deutschen Skiverbandes auf einen Erfolg bei der Vierschanzen-Tournee darstellt, auch jetzt helfen ihm frühere Großtaten nichts.

Sein Sieg in Oberstdorf vor einem Jahr war ja nur ein Zwischengipfel. Freund ist in den vergangenen drei Jahren auf höchstem Niveau abwechselnd aufs Podest gesprungen und gescheitert. Nach dem Mannschaftssieg und dem vierten Platz als Einzelspringer in Sotschi wurde er noch Skiflug-Weltmeister und galt damit schon 2014 als Sieg-Kandidat bei der Tournee. Wie alle anderen Deutschen misslang ihm dann das erste Springen derart deutlich, dass die Frage des Gesamtsieges nach einem Durchgang schon abgehakt war.

Wenige Wochen später erwischte er aber ein sagenhaftes Hoch, das ihm im Februar eine Siegesserie samt zweimal Gold und einmal Silber bei der WM 2015, im März dann sogar den Sieg im Gesamtweltcup bescherte. Logische Folge wäre im Jahr darauf also wieder der Tourneesieg gewesen, aber dann stürzte Freund überraschend in Innsbruck und verletzte sich an der Lippe des Hüftgelenks. Er brachte die Tournee zwar noch als Zweiter zu Ende, aber sein Schwung war gebremst, im April ließ er sich schließlich operieren. Das Glück kannst du eben nicht festhalten.

Und die Zeit auch nicht, vor allem nicht im Skispringen. In anderen Sportarten lassen sich exakte Aufbaupläne erstellen, an deren Ende einer bombig in Form ist. Skispringer, sagt Bundestrainer Werner Schuster, tun sich deshalb so schwer, solche Pläne einzuhalten, weil sich die Zeit im entscheidenden Moment des Trainings immer extrem verdichtet. Es kommt auf die Drittel- oder Viertelsekunde des Absprungs an, der sich aber nur ein paar Mal am Tag üben lässt, weil man ja jedesmal erst wieder hinauf fahren muss - und überhaupt, weil man so eine Großschanze nicht für sich alleine hat.

Auf dem Weg nach oben hat man immer so viele Ideen

"Mit dieser Zeit musst du sinnvoll umgehen", sagt Schuster, aber das sei nicht so leicht. Denn auf dem Weg hinauf hat man ganz viele Verbesserungsideen im Kopf, die der Körper aber in dem Mini-Moment irgendwie von alleine umsetzen muss. Freund hat in diesen Tagen Extraschichten eingelegt, er hat in Oberstdorf versucht, aus der verdichteten Zeit so viel Nutzen wie möglich zu ziehen. Am Ende sagte er: "Mir hilft jeder Sprung, auch wenn er nicht sofort aufgeht."

Einen Erfolg, den er sofort wieder vergessen haben dürfte, war sein Weltcupsieg zu Beginn dieser Saison. Mitten in diesen komplizierten Neuaufbau war dieser Tag in Kuusamo geplatzt, woraufhin es plötzlich schwer wurde, Freund nicht mehr zu den Favoriten für die Tournee zu rechnen. Freund blieb aber dabei, dass sein großes Ziel in diesem Winter die Weltmeisterschaft Ende Februar in Lahti/Finnland sein werde, in den folgenden Weltcups in Klingenthal, Lillehammer und Engelberg rutschte er wieder auf Platz fünf des Gesamtweltcups ab, aber da war auch viel Wind im Spiel, und in Klingenthal und Engelberg war er schon früher sehr selten unter den besten Fünf gelandet.

Es ist also derzeit unmöglich, Freunds Chancen bei dieser Vierschanzentournee zu beziffern. Schon vor Weihnachten wies seine Bilanz wieder leicht nach oben. Nach dem Sieg von Kuusamo erreichte er nacheinander die Weltcup-Plätze 11, 11, 26, 10 und 9. Vielleicht ist er also schon bei 84,7 Prozent seiner alten Form? Oder doch erst bei 76,2 Prozent? Er selbst verweigert, weil der Fortschritt ja so kompliziert ist, grundsätzlich jegliche Prozentangaben.

Auch die Qualifikation am Donnerstag zeigte, dass er sich im Wettkampf am Freitag weiter verbessern muss. Eisenbichler und Stephan Leyhe (Willingen) landeten als beste Deutsche sogar vor Top-Favorit Domen Prevc (Slowenien), Erster wurde der Norweger Daniel-André Tande. Freund belegte Platz 19, wieder hatte er zu wenig Luft unter dem Ski.

Skispringen ist eben ein verwirrender Sport, denn außer dem Glück und der Zeit lässt sich auch die Seele nicht festhalten - jener diffuse Ort, an dem die Springer ihr Gleichgewicht und ihre gute Form vermuten. Die kommt nur von alleine, und sie stellt sich nie ein, wenn man sie dazu zwingen will. Weil Severin Freund aber trotz der Rückschläge seit 2014 einer der wenigen konstanten Top-Springer im Weltcup war, weil er einen klaren Blick auf die Rätsel seines Sports hat, weil er nach vielen Jahren im Weltcup jetzt nicht auf die Idee kommt, irgendwas zu erzwingen, könnte die Form bald aus ihrem Versteck kommen. Vielleicht doch schon bei dieser Tournee.

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