Vierschanzentournee:Richard Freitag fügt das letzte Puzzleteil ein

Vierschanzentournee: Über den Wipfeln: Richard Freitag hat sich mit überragenden Ergebnissen selbst in die Favoritenstellung manövriert.

Über den Wipfeln: Richard Freitag hat sich mit überragenden Ergebnissen selbst in die Favoritenstellung manövriert.

(Foto: Gian Ehrenzeller/AP)
  • Richard Freitag, 26, ist der große Favorit bei der Vierschanzentournee.
  • Seine plötzlich überragende Form ist das Resultat einer jahrelangen Detailsuche.

Von Volker Kreisl, Oberstdorf

Richard Freitag hat das Wasserglas abgestellt, exakt zwischen sich und dem Mikrofon. Seine Hände umschließen das Glas, seine Unterarme liegen symmetrisch rechts und links davon. Freitags Beine stecken hinter einem Werbetuch, aber vermutlich stehen die Füße fest auf dem Boden und zappeln auch nicht. Der ganze Freitag gibt ein Bild der Gelassenheit und Ruhe ab. Nur der Blick wandert, als säße dieser Sportler in einem Museum, hin und her. Mal neugierig, mal genießend, mal nachdenklich.

Vor ihm - ein interessantes Gemälde. So viele Kameras gab es schon lange nicht mehr bei der Auftaktpressekonferenz der Vierschanzentournee. Der Saal ist voll, Reporter aus allen Skisportländern Europas sind da und stellen ihm Fragen, hinter der Glasfront stehen Touristen und schauen herein. Diesen Anblick kennt Freitag, jedoch mit weniger Menschen, weniger hellem Scheinwerferlicht und aus seitlicher Position. Jetzt bilden er, Mikrofon und Wasserglas das Zentrum des Raumes.

Als springe ein neuer Freitag

Der 26-Jährige ist der klare Favorit für diese Tournee, er hat mit Abstand die meisten Punkte im bisherigen Winter geholt. Er springt und fliegt stilistisch sauber, und er strahlt nicht nur in den Tagen vor der Qualifikation zum ersten Springen, die er souverän gewann, sondern seit Wochen großes Selbstbewusstsein aus. Weil das so plötzlich kam, wirken die meisten im Raum immer noch überrascht. Sie kennen diesen Athleten seit Jahren, manche seit der Kindheit, und trotzdem werden viele den Eindruck nicht los, als sei er wie ausgewechselt, als springe ein neuer Freitag.

Der Gedanke ist selbstredend Unfug, niemand wird unvermittelt ein neuer Mensch. Auf Fragen des Rezeptes für das Durchstarten reagieren Freitag und Bundestrainer Werner Schuster eher allergisch. Bei Skispringern, sagt der Coach, sei die Form bekanntlich "wie ein Puzzle", dessen Teile irgendwann eben zusammenpassen. Es ist also ganz simpel, das entscheidende Teil ist offenbar gerade eingefügt worden. Weniger simpel war das Rätsel selbst: Freitags Form-Puzzle hatte wohl ziemlich viele, ziemlich kleine Teile.

Das Anfangsstück musste niemand finden, es lag 1991 von selbst vor. Freitags Talent musste nicht groß gesichtet werden, er ist hineingeboren worden in dieses Milieu: im Krankenhaus Erlabrunn im Erzgebirge, wo auch schon die Vierschanzensieger Jens Weißflog und Sven Hannawald zur Welt kamen. Und sein Vater Holger Freitag war auch mal Skispringer, was Freitag mit etwa fünf Jahren mitbekam, als er erstmals die Tournee im Fernsehen sah (und auch verstand) und seine Mutter ihm verriet: "Das hat Vater früher auch gemacht."

Sein Vater soll einst gesagt haben: Das wird nichts

Ziemlich schnell stand er dann selbst auf Skiern, und seine Sprünge entwickelten sich lokalen Zeitzeugen zufolge ähnlich denen des Vaters: elegant, aber meistens zu kurz, so deutlich, dass Holger Freitag beim ersten Anblick angeblich spontan sagte: "Das wird nichts." Freitag aber wurde kräftiger in den Beinen und entwickelte bald seinen charakteristischen Stil. Er sprang höher als die anderen, trotzte auch dem Rückenwind, allerdings fehlten ihm die Flugeigenschaften.

Dennoch gewann er mit 20 einen Weltcup, in einer Zeit, als das deutsche Skisprungpublikum nach den Rücktritten von Hannawald und Martin Schmitt auf neue Sieger wartete. Schnell wird dann einer zum Nummer-eins-Kandidat, obwohl er seine Entwicklung noch vor sich hat. Was Freitag fehlte, war diese offene, extrovertierte Art, mit der Sportler wie der Norweger Daniel-André Tande oder auch Teamkollege Andreas Wellinger, der zweite deutsche Favorit bei dieser Tournee, ihre Rückschläge verarbeiten. Sie lassen ihre Wut raus, sie sprechen oder lachen darüber, ihre Trainer nennen sie "Sonnenschein". Freitag war das eher nicht, Freitag war normales Wetter, mal Regen, mal Nebel, mal Sonne.

Ein Umzug verändert vieles

Als seine Karriere steil in die Höhe weisen sollte, begann eine Phase im Schatten. In der Olympiasaison 2014 geriet er trotz guter Vorleistungen in eine Formkrise. Die Mannschaft holte in Sotschi Gold, den ersehnten ersten großen Beweis für eine neue deutsche Epoche - Freitag war nicht dabei. Bei der Tournee 2014/15 hatte das Team Großes vor, wurde aber schon im ersten Springen abgehängt. Freitag werkelte unverdrossen weiter. Doch er stand fortan im Schatten von Severin Freund, der Weltmeister auf der Großschanze und Gesamtweltcupsieger wurde.

Irgendein Detail schien immer zu fehlen, mal war es das Selbstvertrauen, mal das Material. Im Sommer 2016 wechselte der Sachse die Skimarke, bald darauf ging der neue Ausrüster pleite, woraufhin Freitag wieder zur alten Firma zurückkehrte. In der Vorbereitung verlor er wichtige Zeit, arbeitete sich aber wieder heran. Podestspringer waren vergangenen Winter dann aber doch zwei andere: der Siegsdorfer Markus Eisenbichler und vor allem Wellinger.

Mitte 20 war Freitag nun schon, und immer größere Teile des Publikums fanden sich damit ab, dass der hochbegabte Erlabrunner doch nur ein guter Durchschnittsspringer ist. Zu dieser Zeit aber fällte das Ex-Talent eine Entscheidung, vielleicht die erste große in seinem Leben. Er zog aus - aus dem Elternhaus und auch aus der WG mit dem Kombinations-Dauersieger Eric Frenzel am Stützpunkt Oberwiesenthal. Freitag wechselte nach Oberstdorf.

Im Zentrum angekommen

Das war zunächst nur eine kurze Meldung in den Zeitungen, auch Freitag betont, dass der Umzug nicht so wichtig sei, dass er sich in Sachsen ja wohlgefühlt habe. Er sagt: "Ich bin ein Erzgebirgler, der gerade in Oberstdorf wohnt." Doch das Zuhause-Ausziehen bringt jeden weiter, warum soll das bei einem Skispringer anders sein? Viele weitere eigene Entscheidungen schließen sich ja an, die Selbstständigkeit wächst automatisch. Außerdem war er jetzt im Zentrum angekommen.

Denn der Ort, an dem heute die letzten Puzzleteile eines deutschen Skispringers gefunden werden, ist Oberstdorf. Hier trainiert die Nationalmannschaft, hier hat jeder den Vergleich mit den Besten und profitiert vom Mannschaftsgeist.

Schuster erzählt, noch wenige Wochen vor Saisonbeginn habe man es nicht vorhersehen können. Aber die technische Entwicklung seines Springers war doch deutlich, und plötzlich sei es da gewesen, das letzte Puzzle-Stück: der schnelle Übergang vom Absprung in die Flugphase, die Voraussetzung für einen Sieg.

Die hat Freitag nun, weshalb in der Pressekonferenz die Frage nach dem riesigen Erwartungsdruck gestellt wurde. Darauf nahm er die Hände vom Glas, lehnte sich zurück und erklärte, lange sei man vor der Tournee schlechter als die Spitze gewesen, dennoch wurde stets ein deutscher Sieger gefordert. Warum solle er Druck haben? "Ich spüre viel weniger", sagt Freitag. Weil: "Wir sind ja jetzt schon gut drauf."

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