Verletzungen:Tennis nach Charles Darwin

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Absagen, Blessuren, schmerzende Gelenke: Was sind die Gründe für die auffällige Verletzungswelle im Tennis?

Von Simon Graf, New York/Zürich

Es hatte eine gewisse Ironie, dass sich Rafael Nadal, 31 Jahre alt, kürzlich in Cincinnati über die Verletzungswelle seiner Konkurrenten äußern sollte. "Wir sind halt nicht mehr 20", sagte er achselzuckend. "Aber ich war häufiger in dieser Position als alle anderen. Roger hatte nicht viele Verletzungen. Novak und Andy auch nicht. Stan meines Wissens auch nicht." Doch bei den US Open, die er 2012 und 2014 ­verpasste, ist der spanische Weltranglisten-Erste jetzt einer der wenigen Spitzenspieler, die keine körperlichen Sorgen plagen. Zumindest ist nichts aktenkundig.

Von den Top 11 fehlen in New York gleich vier: Stan Wawrinka (geplagt vom linken Knie), Novak Djokovic (rechter Ellbogen), Kei Nishikori (rechtes Handgelenk), Milos Raonic (linkes Handgelenk). Dafür kehren Andy Murray (linke Hüfte), Roger ­Federer (Rücken) und Marin Cilic (Adduktoren) nach Verletzungen zurück. Frei nach Charles Darwin wird zuletzt der Fitteste stehenbleiben. Verletzungen ­waren beim letzten Major-Turnier der Saison stets ein Thema. Djokovic spazierte 2016 dank mehrere Aufgaben ins Finale, wo er gegen Wawrinka mehrmals den Physiotherapeuten brauchte. Doch so dramatisch wie jetzt war die Situation noch nie.

Das Handgelenk und der Ellbogen liegen im Trend

Auffällig ist die Häufung der Blessuren an den oberen Extremitäten: Djokovic, der die Saison bereits beendet hat, enthüllte vor seiner ­Pause, dass der Schlagarm ihn bereits 18 Monate geschmerzt habe. Für Stefan Sannwald, stellvertretender Chefarzt Sportmedizin in einer Züricher Klinik, ist diese Art von Verletzungen gut erklärbar: "Die Beschleunigung des Balles kommt aus der Kette Rumpf, Schulter, Arm, Handgelenk, Hand und Schläger. Da wirken enorme Kräfte. Ein Schlag, bei dem man mit dem Körper nicht richtig zum Ball steht, kann genügen, um eine Druckspitze auf den Schlagarm und eine Verletzung auszulösen." Während die Profis der Vergangenheit wie Rod Laver oder John McEnroe den Ball noch übers Netz zu streicheln pflegten, springt Nadal geradezu in den Ball. Der Argentinier Juan Martin Del Potro zum Beispiel gibt jedem Schlag einen letzten Drall mit.

Einen Einfluss hat auch die Entwicklung bei Rackets und Saiten, welche die Beschleunigung und extremen Drall begünstigt. Kommt dazu, dass fast jede Woche mit anderen Bällen, in anderen Bedingungen gespielt wird. Immer wieder muss sich der Körper auf andere Belastungen einstellen - irgendwann kommt er, so scheint es, nicht mehr mit.

Weitere Faktoren: Verschleiß und Alter

Zusehends verbreiten sich im Tennis auch Hüftprobleme. Andy Murray laborierte nach eigener Aussage schon mehrere Jahre daran und humpelte zuletzt in Wimbledon wie einer, bei dem die Operation zum ­Gelenksersatz kurz bevorsteht. Das ist kein Zufall, prägte er doch mit Nadal und Djokovic die Ära, in der die Topspieler nicht mehr primär einander auszuspielen versuchen, sondern sich von der Grundlinie gegenseitig zermürben. Wer fünf Stunden hin- und hersprintet und mit höchster Intensität auf den Ball einschlägt, setzt die Hüfte einer extremen Belastung aus.

Das geht lange gut, aber irgendwann bezahlt der Körper den Preis. Und aktuell sind ja die Top 5 der Weltrangliste erstmals alle über 30 Jahre alt. "Die Gelenke kommen unter Druck, nützen sich mit den Jahren ab", sagt Sportmediziner Sannwald. "Umso mehr muss der Athlet mit der muskulären Stabilisation auffangen." Hätte sich Roger Federer, mittlerweile 36, nicht schon lange konsequent dem Rumpftraining verschrieben, er würde wohl kaum mehr spielen, glaubt Sannwald.

Die Spieler sind so fit wie noch nie, investieren viel ins Training abseits der Courts und verlängern so ihre Karrieren. Doch weil sie an ihre Grenzen gehen müssen, um vorne mitzumischen, spielen sie mit ihrer Gesundheit. Djokovic nahm Schmerzmittel, bis er die Notbremse zog. Sannwald hofft, dass Federer mit der sechsmonatigen Pause nach Wimbledon 2016 aufgezeigt hat, dass es manchmal schlauer ist, dem Körper eine Auszeit zu gönnen. Wawrinka, Djokovic und Nishikori taten es ihm nun gleich. "Eine längere Pause mit einem konsequenten Aufbau- und Stabilisationstraining kann Wunder wirken", sagt der Arzt. Zwei, drei Monate müsse man sich nehmen, um Verletzungen auszukurieren und einen sauberen Neuaufbau zu machen. "Aber natürlich ist das ein schwieriger Entscheid. Man rutscht in der Rangliste ab, hat das Gefühl, den Anschluss zu verlieren. Doch Federer zeigte nun: Eine Pause kann auch bedeuten, dass man ­danach ebenso stark oder sogar stärker zurückkommt."

Auch wenn es natürlich nicht jedem gelingt, danach gleich ­wieder zu siegen wie der Maestro.

© SZ vom 27.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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