Vancouver:Olympische Lust

100.000 Kondome für Olympia: Bei den Spielen kommt es zu einer "Explosion des Hedonismus". Auch diesmal deuten alle Indizien darauf hin - doch deutsche Sportler widersprechen.

Rebecca Schäfer

1992 ist lange her. 18 Jahre, um genau zu sein. 18 Jahre, in denen man viel vergessen kann: Das Wetter am Geburtstag. Den Namen des attraktiven Urlaubsflirts an diesem entspannten Abend auf dem Placa del Rei. Vielleicht sogar das Gefühl, wie es ist, ins Olympiastadion von Barcelona einzulaufen.

Aber eins wird Matthew Syed nie vergessen: Das "Sex-Fest" des Jahres 1992, wie er es nennt. Andere nennen es die Olympischen Spiele von Barcelona. Matthew Syed bleibt beim Sex-Fest. "Für uns olympische Jungfrauen ging es in Barcelona genauso sehr um Sex wie um Sport. Da waren die bezaubernden Hostessen in ihren hellgelben Blusen und schwarzen, kurzen Röcken. Da waren die spanischen Schönheiten, die als Zuschauer zu den Wettkämpfen kamen. Und da waren die zigtausend Athletinnen, die in hautenger Sportkleidung durchs Dorf stolziert sind. Wohin man geschaut hat - überall diese exotischen Frauen aus aller Welt: durchtrainiert, jung, athletisch und voll erotischer Ausstrahlung." Seine Gemütslage während der Spiele beschreibt Syed als "Zustand komatöser Lust": "Ich war definitiv einer Ohnmacht nahe."

Nun ist Vancouver 2010. Und 1992 ist wirklich sehr lange her. Außerdem ist Matthew Syed ein ehemaliger britischer Tischtennis-Profi, kein Wintersportler. Aber unter den Teilnehmern gibt es sicherlich den einen oder anderen, der ähnlich denkt wie Syed - zumal das sogar wissenschaftlich fundiert wurde. Jennifer Matthews beschreibt in einer Studie der Universität Alberta, dass sich die über zwei Wochen zusammengepferchten Athleten aus aller Welt wie in einer Art Paralleluniversum fühlen, das weit weg von zu Hause ist und in dem auch andere (sexuelle) Regeln gelten: "Die Athleten tun Dinge, die sie sonst nie tun würden."

Andrea Henkel gehört nicht dazu. Die deutsche Biathletin hat unlängst verkündet, an Sex sei für sie im olympischen Dorf nicht einmal zu denken. Die Wände seien so dünn, dass man noch nicht einmal in Ruhe telefonieren könne. Und das, obwohl ihr Freund Tim Burke (USA) sogar mit ihr im olympischen Dorf wohnt. Moralische Unterstützung erhält Henkel von Bobpilot André Lange: "Wir sind wegen anderer Dinge hier", sagt er und schiebt sicherheitshalber noch einen Spruch hinterher, der so originell ist wie ein deutscher Olympiasieg im Bobfahren: "Appetit holen kann man sich woanders, aber gegessen wird zu Hause." Unwiderstehlich, diese Deutschen.

Während Deutschland im Medaillenspiegel noch knapp vor Kanada liegt, sind die Gastgeber im Aussprechen von sexuellen olympischen Realitäten schon jetzt weit voraus. Angesichts der 100.000 Präservative, die in den olympischen Dörfern in Vancouver und Whistler für Sportler und Betreuer verteilt wurden, orakelte der frühere Snowboarder und Olympia-Teilnehmer Crispin Lipscomb: "Diese Kondome werden absolut gebraucht."

100.000 Kondome für rund 6850 Sportler und Funktionäre und zwei olympische Wochen. Das sind 14,6 Präservative pro Person. Das klingt redkordverdächtig. Zwar wurden in Sydney 70.000 Kondome (und damit 30.000 zu wenig, wie sich herausstellte) geordert, in Peking 100.000 und in Athen sogar 130.000 Stück - bedruckt mit dem olympischen Motto "Faster, Higher, Stronger". Doch an Sommerspielen nehmen auch viel mehr Sportler teil, als an der Winterolympiade.

"Die Selbstdisziplin, die Sportler vor einem Großereignis aufbringen müssen, ist geradezu unmenschlich. Wie sonst soll die nach einem olympischen Wettkampf enden als mit einer Explosion des Hedonismus", sagt Matthew Syed.

Das olympisches Dorf mit den furchtbar dünnen Wänden, wo man doch so furchtbar alles hört, ein Sündenpfuhl? Oh ja, sagen schon wieder - diese Kanadier. "Nach dem Wettkampf fällt alles ab. Monate der harten Vorbereitung mit nichts anderem als Wasser und Müsli - da wollen die Leute einfach mal Dampf ablassen", weiß Crispin Lipscomb, der Snowboarder. Und Kanadas Skifahrerin Emily Brydon zitiert frei das Motto eines anderen Sündenpfuhls, Las Vegas: "What happens at the village, stays at the village." Zu deutsch: "Was im olympischen Dorf passiert, bleibt im olympischen Dorf." Mit diesem Motto können sich die Athleten auch ein Stück sprichwörtlicher Intimität bewahren, denn der Weltpresse ist der Zutritt zum olympischen Dorf verwehrt.

Im Video: Sie hat allen Grund zur Freude, Stephanie Beckert präsentiert ihre Silbermedaille Nr.2 - gewonnen über die Distanz von 5000 Metern.

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