US-Stürmer Clint Dempsey:Unglaubliche Geschichte von Captain America

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Eine bewegte Vergangenheit: Clint Dempsey (Foto: dpa)

Nicht erst seit seinem Bauchnabeltor gegen Portugal verzückt Clint Dempsey das amerikanische Fußball-Volk. Dass er zum bestbezahlten US-Kicker aufsteigt, war lange nicht abzusehen. Seine Karriere begann erst nach einem Familien-Drama.

Von Raphael Honigstein, Rio de Janeiro

Die Geschichte von "Captain America" (Wall Street Journal) beginnt, wo moderne amerikanische Heldengeschichten beginnen: in einer Wohnwagensiedlung im gottverlassenen Nirgendwo. Nacogdoches, Texas: ein Städtchen, 210 Kilometer nordöstlich von Houston, benannt nach dem Indianerstamm, der einst dort wohnte; bekannt für einen Auftritt der Marx Brothers im Jahre 1912 und für die Trümmerreste der verunglückten Raumfähre Columbia, die 2003 über der Ortschaft niedergingen.

Clinton Drew Dempsey, genannt Clint, wuchs dort inmitten mexikanischer Einwandererkinder auf. Sie spielten Fußball auf Feldern, auf Straßen, auf Hügeln. Er spielte mit, der Sohn einer irisch-stämmigen Familie mit fünf Kindern, der Vater Schreiner, die Mutter Krankenschwester. Für Baseball und American Football fehlte ihm die Geduld. "Zu viele Pausen", erzählte er einst dem Guardian. "Fußball war schneller, ständig im Fluss. Es hatte mich gepackt."

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Vater Aubrey fuhr mit dem zehnjährigen Clint nach Dallas, um bei einem Klub namens Longhorns vorzuspielen. Der Trainer ließ ihn ein paar Minuten den Ball jonglieren. Das reichte. Die Mutter machte Überstunden, der Vater verkaufte sein Boot und eine Pistolensammlung, um sich die Fahrtkosten leisten zu können. Doch Clint hatte eine ältere Schwester, Jennifer. Sie war eine gute Tennisspielerin; gut genug, eine Profikarriere zu starten. Die Dempseys brauchten das Geld, um sie auf ihren Reisen zu begleiten. Clint konnte nicht mehr bei den Longhorns spielen und musste stattdessen mit einer Freizeittruppe kicken. "Da war ein Mädchen dabei", hat er erzählt.

Hier hätte die Geschichte von Dempsey zu Ende gehen können, der mit seinem lateinamerikanischen Stil aus dem eher auf Athletik und Disziplin vertrauenden US Men's National Team (USMNT) so deutlich heraussticht, dass er oft sein ganz eigenes Spiel zu spielen scheint. Aber es geschah ein Unglück. Jennifer starb mit 16 Jahren, sie litt an einem Hirnaneurysma. Falls sie sterben sollte, würde sie ihm aus dem Jenseits helfen, den "Ball ins Netz" zu bringen, hatte sie dem Bruder versprochen. Nach ihrem Tod konnte er wieder in Dallas spielen. Der Gruß zum Himmel nach Treffern gilt ihr. "Ich habe nach ihrem Tod geweint, bis ich nicht mehr weinen konnte", sagte er, "es ist traurig, dass man das Leben erst nach so etwas zu schätzen weiß."

Mit 15 trat er regelmäßig gegen mehr als doppelt so alte Südamerikaner an, die in der texanischen Amateurliga spielten. Ein seltsamer Mann mit Cowboyhut stand oft an der Seitenlinie, er nannte Dempsey "meinen kleinen Gockel" und wettete darauf, dass der Teenager seine Gegner besiegte. Er verdiente viel Geld. Dempsey brachte mit Tricks, die er sich selbst beigebracht hatte, die Gegenspieler zur Raserei. Einmal wurde er angespuckt; das ermunterte ihn, die Verteidiger noch mehr zu demütigen. "Im Nachhinein bin ich überrascht, dass ich nicht abgestochen wurde", sagte er in einem Interview mit dem amerikanischen Magazin Sports Illustrated.

Dempsey wurde Profi bei New England Revolution in der MLS. Bei der WM 2006 in Deutschland war er der einzige Amerikaner, dem ein Tor gelang; in der Saison darauf wechselte er mit 24 Jahren zum FC Fulham und wurde bald zum besten Feldspieler, den die USA je hatte. Im Halbfinale in der Europa League 2010 überwand er Juventus-Torhüter Gianluigi Buffon mit einem aberwitzigen Lupfer von außerhalb des Strafraums. "Das hätten sich nur die wenigsten Amerikaner getraut", sagte Sunil Gulati, der Präsident des amerikanischen Verbandes: "Und die wenigsten nicht-südamerikanischen Spieler hätten überhaupt daran gedacht."

In 184 Premier-League-Spielen für Fulham erzielte Dempsey beachtliche 50 Tore. Nach nur einer Saison bei Tottenham Hotspur (29 Spiele, sieben Tore) kehrte er im Sommer 2013 in die MLS zurück. Er spielt jetzt bei den Seattle Sounders, dem populärsten Klub in Nordamerika (Zuschauerschnitt: 67 000), und wird inklusive Prämien auf stattliche acht Millionen Dollar geschätzt - Dempsey ist damit der Top-Verdiener in der MLS, was seine Rückkehr aus Europa verständlicher macht.

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Nach der WM erscheint Dempseys erstes Rap-Album

Jürgen Klinsmann wollte den Kapitän eigentlich als hängende Spitze aufbieten, doch nach der Verletzung von Jozy Altidore (FC Sunderland) steht Dempsey meist ganz alleine im letzten Drittel. Dort hat er die Ideen, die ein ganzes Land verzücken. Gegen Ghana traf er nach einem Tempodribbling schon nach 29 Sekunden, im Anschluss spielte er mit einer gebrochenen Nase weiter, bis ihm schwarz vor Augen wurde.

Ein weiterer Treffer gegen Portugal - mit dem Bauchnabel - brachte ihm Legendenstatus ein. Nach der WM erscheint sein erstes Rap-Album, die Texte handeln von seiner Jugend in Texas und seinem neuen Leben als Captain America; dem Mann, der Soccer zum endgültigen Durchbruch in Nordamerika verhilft. Vielleicht muss er demnächst noch den einen oder anderen Bonus-Track aufnehmen. Denn Dempseys Geschichte ist viel zu gut, um an diesem Donnerstag in Recife schon zu enden.

© SZ vom 26.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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