US Open:Wawrinkas Triumph ist im Schmerz geboren

Stan Wawrinka, US Open

Mit 31 Jahren und fünf Monaten ist der Schweizer Stan Wawrinka der älteste US-Open-Champion seit Ken Rosewall vor 46 Jahren.

(Foto: AP)

Der Schweizer überlistet Novak Djokovic im Finale von New York, indem er sich seine körperliche Schwäche nie anmerken lässt. Nun ist er in der Weltspitze angekommen.

Von Jürgen Schmieder, New York

Boris Becker, der alte Fuchs, hatte sich vor dem Endspiel der US Open eine hundsgemeine Überraschung für Stan Wawrinka ausgedacht. In den Gängen des Arthur Ashe Stadiums, auf dem Weg von der Umkleide zum Tennisplatz, da hängen Bilder von Legenden dieses Turniers. Wawrinka lief durch die Katakomben, er sah Tracy Austin, Ivan Lendl und Pete Sampras - und ganz plötzlich sah er auch Boris Becker.

Nicht auf einem Poster, sondern in Lebensgröße. Becker lehnte lässig an der Wand, ganz so, als hätte ihn jemand absichtlich als Statue dort hingestellt. Er beachtete Wawrinka nicht, warum sollte er auch? Eine Legende gibt sich nicht ab mit einem, der in seinem Leben erst zwei Grand-Slam-Turniere gewonnen hat. Kurz darauf kam Novak Djokovic, Becker nickte. Eine Legende ist freundlich zur anderen Legende - vor allem dann, wenn sie auch noch ihr Trainer ist.

Das sind die kleinen Psychotricks, von denen Becker gerne philosophiert, jene zwei Prozent, die einen Grand-Slam-Sieger von einer Legende unterscheiden. Tennisprofis, das war zuletzt immer häufiger zu hören, unternehmen mittlerweile recht spektakuläre Sachen - Nickerchen in Überdruckkammern oder Extrem-Yoga in Höhenluft -, um noch ein paar Prozent besser zu werden. Becker vertraute an diesem Abend auf die mindestens 5000 Jahre alte Schule der Einschüchterung, später kam die mindestens ebenso alte Schule der gut gewählten Auszeit hinzu.

Nach dem Match ist Beckers Gesicht voller Resignation und Anerkennung

Vier Stunden nach seinem Trick stand Becker auf der Tribüne, den Kopf leicht zur Seite gelegt und langsam nickend, den Mund in Schmollposition. Es ist eine Geste der Resignation, aber auch der Anerkennung für den Gegner, der sich über all die Überraschungen und Unterbrechungen zwar echauffiert hatte, jedoch so gelassen geblieben war, wie es nur Akteure können, die diese zwei Prozent mehr erreicht haben.

Wawrinka gewann dieses Endspiel 6:7 (1), 6:4, 7:5, 6:3 und damit zum dritten Mal nach Melbourne (2014) und Paris (2015) ein Grand-Slam-Turnier. "Ich habe gelitten - nicht nur körperlich, sondern auch im Kopf", sagte Wawrinka danach: "Ich durfte mir nur gegen den besten Spieler der Welt nichts anmerken lassen. Ich wollte ihm keine Schwäche zeigen. Keinen Krampf. Gar nichts. Das war das schmerzhafteste Turnier, physisch wie psychisch, das ich jemals gespielt habe."

Und dann sagte er noch: "Wer zu den Besten gehören möchte, der muss es fast schon genießen, wenn er leidet." Boris Becker war nicht im Raum, aber wahrscheinlich hätte er bei diesen Worten den Kopf mit Schmollmund zur Seite gelegt und langsam genickt.

Bis zum Finale musste Wawrinka doppelt so lange auf dem Platz stehen wie Djokovic

Das Leiden von Wawrinka, 31, bei diesen US Open ist statistisch belegbar, die Zahlen tun einem schon beim Lesen weh. Djokovic hatte bis zum Finale, auch aufgrund von Verletzungen seiner Gegner, nicht einmal neun Stunden auf den Plätzen verbracht und dabei während der Ballwechsel insgesamt 8,2 Kilometer zurückgelegt. Wawrinka: knapp 18 Stunden und 15,7 Kilometer, bis aufs Viertelfinale stets in der Nachmittagshitze.

Er hatte gegen Dan Evans (dritte Runde) einen Matchball abgewehrt und danach gegen die Publikumslieblinge Juan Martín del Potro und Kei Nishikori bestanden. Wawrinka kam am Sonntag auf dem Zahnfleisch ins Stadion gekrochen und musste dann auch noch an der Boris-Becker-Statue vorbei. Es gibt Spieler, die wäre da eingeknickt.

Wawrinka ist schon lange ein formidabler Tennisspieler. Aber auch einer, der bei Grand Slams jahrelang verlässlich vor dem Halbfinale ausschied. Der sich dann ein paar Hamburger oder alkoholische Getränke genehmigte. Einer, der sich selbst nicht für gut genug hielt.

Sein Trainer hat ihm beigebracht, dass man Gegner auch im Kopf besiegen kann

Er war halbwegs erfolgreich, aufgrund fehlender großer Titel wurde ihm aber die Aufnahme in den Klub der so genannten Big Four verweigert. Djokovic, Roger Federer, Rafael Nadal und Andy Murray galoppierten vorneweg, mit 42 Siegen bei den vergangenen 46 Grand-Slam-Turnieren, Wawrinka trottete hinterher. Selbst am Sonntag, nach seinem Triumph bei diesen US Open, sagte er: "Ich bin nicht gut genug, als dass ich behaupten dürfte: Ich gewinne in diesem Jahr ein Grand-Slam-Turnier."

Vor drei Jahren tat er sich mit dem Trainer Magnus Norman zusammen, der ihm beibrachte, dass ein grandioser Tennisspieler nicht nur grandios Tennis spielen muss, sondern einen Gegner auch mal im Kopf besiegen kann. Die zwei Prozent eben. Wawrinka gewann vor zwei Jahren die Australian Open (und besiegte dabei Djokovic und Nadal), bei den French Open im vergangenen Jahr und nun in New York schlug er Djokovic jeweils im Finale. Nach prägenden Punkten tippt sich Wawrinka nun immer mal wieder gegen die Stirn, um dem Gegner, vor allem aber sich selbst, zu versichern: "Ich bin stark im Kopf."

Wie prächtig das funktioniert, das war nicht nur im Umgang mit der Boris-Becker-Statue zu erkennen - Wawrinka ignorierte sie lächelnd -, sondern auch Mitte des vierten Satzes, als Djokovic wegen blutender Zehen den Arzt herbeirief. Wawrinka beschwerte sich über den Zeitpunkt (nach einem Break), und noch vor drei Jahren hätte ihn das vermutlich aus dem Konzept gebracht. Nun aber wehrte er sogleich zwei Breakbälle ab. "Ich hatte Krämpfe", gab der Schweizer später zu, "doch das durfte Novak nicht bemerken. Ich habe mich nicht hingesetzt, sondern so getan, als würde ich unbedingt weiterspielen wollen."

Nach dem letzten Ballwechsel entschuldigt sich Djokovic für die Auszeiten

Wawrinka, der alte Fuchs, mit 31 ältester New-York-Sieger seit Ken Rosewall 1970, überlistete Djokovic - und gehört nun zu dem kleinen Kreis jener Spieler, die nach dem Verlust des ersten Satzes das US-Open-Finale noch gewonnen haben. Alle anderen übrigens, Ivan Lendl, John McEnroe und Guillermo Vilas etwa, hängen mittlerweile als Poster in den Katakomben.

Wer legendäre Partien gewinnen will, der darf den anderen nicht einfach vom Platz prügeln. Er muss etwas tun, das dem bereits legendären Gegner und seinem legendären Trainer Respekt abringt. Als dieses Finale vorbei war, da applaudierte Boris Becker. Stehend. Mit Schmollmund. Djokovic empfing Wawrinka am Netz und entschuldigte sich für die Auszeiten: "Ich hatte wirklich starke Schmerzen. Entschuldige bitte." Danach umarmte er ihn.

Es war keine Geste der Freundschaft, das sind die beiden bereits seit Jahren. Es wirkte vielmehr wie die Aufnahme in diesen elitären Klub der derzeit dominierenden Tennisspieler. Weil Nadal und Federer langsam dem Sonnenuntergang entgegenreiten, braucht dieser Klub dringend brauchbare und zuverlässige Mitglieder. Wawrinka wurde bei diesen US Open gewogen - und für ausreichend schwer befunden.

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