US Open:Kerber hat endlich breite Schultern

2016 U.S. Open - Kvitova-Kerber

Angelique Kerber: Mutiger, aggressiver, bestimmender

(Foto: AFP)

Von Jürgen Schmieder, New York

Die Dinge im New Yorker Arthur Ashe Stadium sind derart gewaltig, von den Anzeigetafeln bis zu den Popcornkübeln, dass einem die Menschen daneben manchmal sehr klein vorkommen. Angelique Kerber etwa sieht in diesem einen Moment geradezu zwergenhaft aus. Das liegt daran, dass sie sich kleiner macht, als sie ist. Es sieht so aus, als würde sie gerne verschwinden oder sich zumindest hinter einer Anzeigetafel oder einem Popcornkübel verstecken. Kerber ist ausgeschieden, mal wieder früh bei einem bedeutsamen Turnier. Kurz darauf schickt sie eine Nachricht an Bundestrainerin Barbara Rittner: "Das soll einfach nicht klappen mit mir, oder?"

Exakt 365 Tage ist das her. Kerber hatte in der dritten Runde der US Open 5:7, 6:2, 4:6 gegen Wiktoria Asarenka verloren. Es war das beste Spiel des gesamten Turniers, womöglich gar die packendste Partie im kompletten Frauen-Tennisjahr 2015. Die Siegerin war zu einer Leistung getrieben worden, die sie ohne die grandiose Verliererin nicht geschafft hätte - doch was bringt so eine Partie der Unterlegenen außer netten Worten und dem Hinweis, dass es beim nächsten Mal anders ausgehen könnte? So wie Kerber da alleine auf ihrem Stuhl in der riesigen Arena kauerte und schrecklich klein wirkte, war klar: Es bringt gar nichts.

Ein Jahr später marschiert Kerber nun durch die Katakomben der New Yorker Arena. Sie hat gerade 6:3, 7:5 gegen Petra Kvitova gewonnen. Dieses Stadion kommt einem plötzlich so unglaublich klein vor neben Angelique Kerber, selbst die oft übermächtig wirkende Serena Williams wirft keinen Schatten mehr auf sie, sondern begegnet Kerber auf ähnlicher Höhe. Wer so breitschultrig daherkommt wie Kerber derzeit, schreibt keine Textnachrichten mehr, dass das wohl nicht mehr klappen wird mit ihr. So jemand sagt Sätze wie: "Ich weiß, dass ich gerade großartiges Tennis spiele."

Kerber könnte am Ende der US Open auf Platz eins stehen

Es ist erstaunlich, wie sich eine erwachsene Frau innerhalb von zwölf Monaten derart wandeln kann. Diese Wandlung fällt umso mehr auf, wenn man sie seitdem nicht mehr live erlebt hat. Kerber ist ja kein Teenager mehr, sie ist 28 Jahre alt und könnte am Ende der US Open die älteste Frau sein, die zum ersten Mal in ihrem Leben auf Platz eins der Weltrangliste geführt wird. Die Schultern sind nicht nur wegen eines intensiven Fitnessprogramms kräftig geworden, sie wirken noch viel gewaltiger wegen ihres selbstsicheren Auftretens. Schrecklich klein wirken nun Gegnerinnen wie etwa Kvitova. Beim Matchball für Kerber fabrizierte die zweimalige Grand-Slam-Siegerin einen Doppelfehler.

Es gibt unterschiedliche Lesarten dafür, was genau passiert ist in den vergangenen zwölf Monaten. Kerber hat im Januar die Australian Open gewonnen und sich damit selbst bewiesen, dass es doch noch klappen kann mit ihr. "Ich habe gesehen, dass ich knappe Matches für mich entscheiden, auf großer Bühne bestehen und ein wichtiges Turnier gewinnen kann", sagt sie nun in New York. "Es war sehr wichtig für mich, aber es war nicht der Moment, in dem sich für mich alles verändert hat."

Was helfen der Unterlegen Komplimente statt Pokale?

Es war auch nicht, wie etwa Bundestrainerin Rittner vermutete, das Erreichen des Wimbledon-Endspiels und der damit verbundene Beweis, dass Melbourne kein Zufall gewesen war. Es war auch nicht die Silbermedaille bei den Olympischen Spielen in Rio. "Es war bei den WTA Finals in Singapur 2015", sagt Kerber über das Turnier, bei dem sie bereits in der Gruppenphase gescheitert war. "Das war das letzte Mal, dass ich Druck zugelassen habe."

Sie hat vier Titel gewonnen in der vergangenen Saison, bei den Grand Slams und den vier so genannten Premier-Mandatory-Turnieren (Indian Wells, Miami, Madrid, Peking) allerdings nur einmal das Viertelfinale erreicht. Sie hatte meist nicht schlecht gespielt, ganz im Gegenteil. Doch was hilft es der Unterlegenen schon, wenn sie nur Komplimente bekommt und keine Pokale? "Ich habe so viele Partien verloren, weil ich Druck auf mich selbst aufgebaut habe", sagt sie nun. "Nach Singapur habe ich beschlossen, dass ich das nicht mehr will und dass ich mich lieber auf andere Dinge konzentrieren sollte." Sie errichtete ein Dach über sich, so wie sie es bei den US Open mit der großen Arena gemacht haben. Alles, was stört, musste von da an draußen bleiben. Das klappt - sieht man von den French Open 2016 ab - exzellent.

"Vertraue deinen Fähigkeiten"

Bedeutsame Turniere dauern länger als unwichtigere Veranstaltungen, begünstigt sind deshalb nicht unbedingt die Spielerinnen mit dem kräftigsten Aufschlag oder der präzisesten Vorhand, sondern jene, die auch nach fünf Partien innerhalb von zehn Tagen noch ein Drei-Satz-Match konzentriert beenden können. Zu Beginn der neuen Saison wirkte Kerber kräftiger und schlanker zugleich, auf dem Platz blickte sie nicht mehr andauernd zur Gegnerin, zu ihrer Box oder den Zuschauern. Sie agierte mutiger, aggressiver, bestimmender. "Vertraue deinen Fähigkeiten", lautete die banale und doch so wichtige Botschaft. Die Absenderin: Steffi Graf; Kerber hatte sie im Frühling in Las Vegas besucht.

Bleibt natürlich die Frage, wie sie innerhalb von 365 Tagen die Transformation von einer Hochbegabten zur Hocherfolgreichen geschafft hat. Es gibt Menschen, die würden für eine derartige Information sehr viel Geld bezahlen. Doch die Antwort auf diese Frage fällt erstaunlich simpel aus. "Gar nicht so viel, das hat vielleicht auch ein bisschen mit Erfahrung zu tun", sagt Kerber. "Wer drei Mal den gleichen Fehler macht, der lernt vielleicht irgendwann mal daraus." Manchmal kann Wachsen so einfach sein: an seinen Fähigkeiten arbeiten, sich nicht so stressen - und sich selbst nicht immer so schrecklich klein machen. Angelique Kerber hat das gelernt.

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