US Open:Del Potro ist der Badstuber des Tennis

Tennis: U.S. Open

Groot springt! Der stoische Argentinier Juan Martin del Potro taucht häufiger als früher am Netz auf.

(Foto: USA Today Sports)

Juan Martin del Potro erzählt die Wohlfühl-Geschichte der US Open: Nach drei Operationen und Rücktrittsgedanken erlebt er nun einen spektakulären Spätsommer.

Von Jürgen Schmieder, New York

Vielleicht ist es ganz gut, dass Andy Murray am Montagabend gegen Grigor Dimitrov gewonnen hat. Nicht für Dimitrov, gewiss, doch zumindest für das große Ganze im Tennis. Es gibt bei Grand-Slam-Turnieren in der ersten Woche immer mal wieder Gebrabbel über das große Ganze, wenn die einzelnen Partien nicht spektakulär genug sind oder keine überraschenden Ergebnisse liefern. Dieses Gebrabbel wird schnell zu einer veritablen Debatte. Roger Federer verletzt, Rafael Nadal ausgeschieden, Novak Djokovic angeschlagen, wosolldasalleshinführen. Aber bevor daraus eine richtige Diskussion entstehen konnte, prügelte Murray seinen bulgarischen Gegner mit 6:1, 6:2, 6:2 vom Platz.

Nein, die Regentschaft der Big Four im Tennis ist längst nicht vorbei, auch wenn das nun bereits seit mindestens zwei Jahren angekündigt wird. Bei jedem Turnier wird wenigstens ein neuer Kandidat vorgestellt: ganz sicher ein künftiger Grand-Slam-Sieger, brabbelbrabbel. Oder wenigstens Top 5 in der Weltrangliste, murmelmurmel. Es hat bisweilen den Anschein, als würden sich auf der Anlage in Flushing Meadows mindestens so viele künftige Weltstars wie Teilnehmer tummeln - dann jedoch verlieren Aufsteiger wie Alexander Zverev (Deutschland) und Milos Raonic (Kanada) recht unspektakulär in der zweiten Runde, Kyle Edmund (Großbritannien) und Dimitrov (Bulgarien) bekommen Lehrstunden von Djokovic und Murray.

Vielleicht ist es deshalb ganz gut, dass auch Dominic Thiem ausgeschieden ist. Nicht für Thiem, gewiss, der 23-jährige Österreicher ist ein aufstrebender Spieler und feiner Kerl, überhaupt sollte niemand eine Partie verletzt beenden müssen. Auch nicht fürs große Ganze, sondern für diese US Open, die bei all dem Gebrabbel und Gemurmel ganz dringend eine klar formulierte Wohlfühl-Geschichte benötigen. Thiems Gegner Juan Martin del Potro, derzeit auf Platz 142 der Weltrangliste geführt, hat die Menschen bereits bei den Olympischen Spielen in Rio verzückt, nach dem Gewinn der Silbermedaille (er verlor, natürlich, gegen Murray) macht er nun einfach in New York weiter. Im Viertelfinale am Mittwoch spielt er gegen Stan Wawrinka (Schweiz).

Tragische Verletzungsserie

"Ich fühle mich wohl hier und genieße jeden Tag", sagt del Potro. Er ist zum Maskottchen dieser Veranstaltung geworden, weil die älteren Zuschauer den jüngeren diese Geschichte erzählen, die von Schmerzen und Rückschlägen handelt und einem, der einfach nicht aufgeben will. Die argentinischen Zuschauer, sie beherrschen nicht nur die Klassiker der Fußball-Brüllereien, sondern auch das Sentimentale, das nur südamerikanische Seifenopern derart unironisch so hinbekommen. Sie singen diese Geschichte auch gerne mal - und dann blicken kleine Jungs beinahe andächtig hinauf zu diesem riesigen Kerl, der manchmal an Groot erinnert, diesen sprechenden und schreitenden Baum aus "Guardians of the Galaxy", wenn er lächelnd über die Anlage schreitet zum nächsten Spiel. Del Potro schreitet wirklich. Vielleicht, weil er so groß ist. Vielleicht aber auch, weil er nach all der Zeit in Krankenhausbetten nicht mehr richtig gehen kann.

Die Geschichte von del Potro ist bedeutsam fürs Tennis, weil sie nicht nur von diesem Spieler aus Argentinien handelt, seiner badstuberesken Verletzungsserie und diesen Tagen in New York, die ein bisschen an diesen unglaublichen Lauf des damals bereits 39 Jahre alten und an Platz 174 der Weltrangliste geführten Jimmy Connors bei den US Open 1991 erinnern. Del Potros Geschichte, sie erzählt aber auch was über all die künftigen Top-Ten-Spieler, über die Experten, die Spieler wie Zverev und Edmund und Dimitrov bereits zu sicheren Grand-Slam-Siegern ausrufen - und damit natürlich was übers große Ganze im Tennis.

Er musste einen völlig neuen Schlag lernen

Del Potro, 27, hat im Jahr 2009 die US Open gewonnen. Er hat erst Nadal und dann Federer besiegt, der davor 41 Spiele nacheinander in New York nicht verloren hatte. Der damals 20-jährige del Potro ist stolz neben den großen vier geritten, er war der fünfte Reiter, und alle waren sich sicher: weitere Grand-Slam-Titel, brabbelbrabbel. Nummer eins der Welt, murmelmurmel. Als hätte das Schicksal, dieser miese Verräter, all den Glaskugel-Blickern eine Lektion erteilen wollen, hatte es del Potro mit einem fragilen Handgelenk ausgestattet. Er wurde drei Mal operiert, statt Fotos mit Pokalen veröffentlichte er Bilder aus Krankenhäusern. Sein Weltranglistenplatz zu Beginn dieser Saison: 1042.

"Ich wollte meine Karriere schon beenden, aber dann habe ich mich daran erinnert, welch schöne Momente ich beim Tennis erlebt habe", sagt er mit dieser Sentimentalität, die nur bei Südamerikanern nicht schmalzig klingt: "Sehen Sie doch, was bei Olympia passiert ist: Das waren die schönsten Momente meines Lebens." Auch wegen dieser Leistung haben sie ihm eine Wild Card für die US Open gegeben, was der junge Amerikaner Steve Johnson - noch so ein möglicher künftiger Top-Ten-Spieler - nicht so toll fand: "Das könnte viele US-Fans enttäuschen. Was passiert, wenn er in den ersten Runden auf ein US-Talent trifft?" Das Schicksal ist zwar ein mieser Verräter, bisweilen aber auch mit herrlich schwarzem Humor ausgestattet. Die Auslosung ergab, dass del Potro in der zweiten Runde gegen Johnson spielte - und ihn natürlich besiegte, glatt in drei Sätzen.

Del Potro hat seine Spielweise ändern müssen aufgrund der zahlreichen Operationen. Er hatte die Bälle vorher flach und hart übers Netz geprügelt, manchmal in wahnwitzigen Winkeln, nun muss er vor allem auf der Rückhandseite oft mit dem eher defensiven Slice arbeiten. "Daran tüftle ich noch immer - ich muss quasi einen neuen Schlag lernen, weil ich vorher kaum Slice gespielt habe", sagt er: "Ich werde jeden Tag besser, das macht mich stolz."

Wegen Aussagen wie dieser ist del Potros Geschichte nicht nur mitreißend, sondern eben auch eine Lehre für all die jungen Spieler, die ihre Karriere gerade auf dem Reißbrett planen: Gerade für Sportler sind viele Dinge nicht planbar, es gibt Rückschläge und Verletzungen - eine Laufbahn wird auch dadurch definiert, wie einer mit Niederlagen umgeht und auf die Unwägbarkeiten eines Sportlerlebens reagiert.

Wer das nicht versteht, der sollte wenigstens diesen Satz von del Potro lesen: "Ich träume nicht mehr von Pokalen oder der Rangliste. Ich träume nur noch davon, dass ich vor vielen Zuschauern auf einem Tennisplatz stehe."

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