Ukraine:Planschbecken statt Prügelei

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Bei der Ukraine geben sich Spieler aus Kiew und Donezk harmonisch - nur wenige Monate nach einer epischen Schlägerei von Spielern der beiden Klubs in der heimischen Liga.

Von Ulrich Hartmann, Aix-en-Provence

Beim Training der Ukrainer ist es am Mittwochabend zu Tumulten gekommen. Zu deren Vermeidung stehen vor dem Stade Georges Carcassonne eigentlich allerhand Polizisten, zudem wird jeder Besucher akribisch abgetastet. Aber was kann die französische Polizei ausrichten, wenn ukrainische Volkshelden wie Andrej Schewtschenko, Anatoli Timoschtschuk und Andrej Jarmolenko bunte Lederbälle ins Publikum schießen?

Auf der Tribüne des rustikal-romantischen Sportplatzes in der Provence rangen die Zuschauer um die Devotionalien. Hysterie löste die Ruhe in der idyllischen Stadt Aix-en-Provence ab. Man kann allerdings nicht ausschließen, dass die Ukrainer damit bereits zum letzten Mal bei dieser EM Begeisterung hervorgerufen haben. Es ist nämlich nur schwer vorstellbar, dass sie die Gruppenphase überstehen - mit einem Kader, in dem sich mehrere Fußballer beim Spiel zwischen Donezk und Kiew Anfang Mai miteinander geprügelt haben.

Vielleicht auch deshalb demonstrierten die Verbands-Repräsentanten am Rande des Trainings Harmonie und überschütteten Vertreter der französischen Gastgeberstadt mit Komplimenten. Man herzte sich, während die Spieler in einem Planschbecken im Eiswasser standen und gemeinsam für die Fotografen lächelten. Vor dem ersten Spiel am Sonntag gegen Deutschland ist die Ukraine daran interessiert, Eintracht zu zeigen. Wie die Atmosphäre im Team sei, ist der neue Assistenztrainer Schewtschenko, 39, gefragt worden: "Sehr gut", hat er lächelnd geantwortet, "alles, was passiert ist, ist Vergangenheit. Alle sind freundlich zueinander und denken jetzt nur noch ans Nationalteam und nicht mehr an die Probleme im Klub."

Die Probleme im Klub waren zutage getreten, als die rivalisierenden Liga-Größen Schachtjor Donezk und Dynamo Kiew aufeinandertrafen. Eduardo hatte in der 78. Minute gerade das 3:0 für Donezk erzielt, als mehrere Spieler beider Teams aneinandergerieten und der Kiewer Nationalspieler Jarmolenko den Donezker Nationalspieler Taras Stepanenko mit einem üblen Tritt von den Beinen holte. Danach begann eine Art Wirtshausschlägerei, die in mehrere Platzverweise mündete - und nach der man sich nicht vorstellen konnte, dass diese Spieler für die EM nominiert werden. Doch als Nationaltrainer Michail Fomenko seinen 23er-Kader bekannt gab, waren sechs Spieler von Donezk und fünf von Kiew dabei; auch Jarmolenko und Stepanenko. "Wäre das gestern passiert, dann hätten wir jetzt ein Problem", sagte Fomenko am Mittwoch, "aber Zeit ist der beste Doktor, das Team ist wie eine Familie."

Dabei weiß jeder, wie es in Familien mitunter zugeht. Der Satz bietet also Interpretationsspielraum. Tatsächlich kann die in der Breite allenfalls mittelprächtig ausgestattete ukrainische Mannschaft vor allem auf Jarmolenko nicht verzichten: "Er hat eine sehr gute Saison gespielt, er ist wichtig für Dynamo und für das Nationalteam", sagt Schewtschenko, der mit 48 Treffern im Nationaltrikot die ukrainische Stürmer-Bestenliste anführt. Jarmolenko ist mit 22 Länderspiel-Toren die Nummer zwei. Von ihm auf dem rechten Offensivflügel sowie Jewhen Konopljanka (FC Sevilla) auf dem linken wird wohl das Schicksal der Ukraine bei der EM abhängen: "Wir haben zwei gute Spieler auf den Flügeln", sagt Schewtschenko - andere Mannschaftsteile erwähnt er nicht. Dabei hat das Team, das sich erst über die Playoffs gegen Slowenien qualifiziert hat, in zehn Gruppenspielen der Qualifikation nur vier Gegentreffer zugelassen. Das Lob, dass die Ukraine "eine der besten Abwehrreihen der Qualifikationsrunde" hatte, kommt dafür vom gegnerischen Trainer Joachim Löw.

Dem Kollegen Fomenko, 67, der den ehemaligen FC-Bayern-Spieler Timoschtschuk, 37, wohl nur noch als eine Art Motivator ins Team berufen hat, kommt der Auftakt gegen den Favoriten Deutschland recht: "Zuerst gegen den Weltmeister zu spielen, motiviert uns - aber wichtiger sind die Spiele gegen Nordirland und Polen. Hier wird entschieden, wer ins Achtelfinale kommt."

© SZ vom 10.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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