Ukraine nach dem Torklau:"Bist du ein Mann, geh mit mir vor die Tür"

Nach dem Torklau von Donezk ist die Enttäuschung in der Ukraine riesig. Trainer Oleg Blochin droht einem Journalisten sogar Prügel an. Und die Uefa ist blamiert. Nur einen Tag vor der Niederlage des EM-Gastgebers gegen England hatte Präsident Platini die Torrichter als ultimative Lösung des Problems gepriesen und technische Hilfsmittel abgelehnt.

Johannes Aumüller, Donezk und Sebastian Gierke

Oleg Blochin war rasend vor Wut. Er tobte, flippte aus. "Wenn du ein Mann bist, geh mit mir vor die Tür und wir haben eine Unterhaltung unter Männern." Der ukrainische Trainer meinte damit: nicht den Schiedsrichter.

Nach dem bitteren EM-Vorrundenaus seiner Mannschaft drohte er einem Journalisten Prügel an. Der hatte es gewagt, nach der 0:1-Niederlage gegen England die mangelnde Fitness seines Teams zu kritisieren. Selbst als ein Uefa-Sprecher schon die nächste Frage aufrufen wollte und die Journalisten bat, keine "Meinungen" mehr zu äußern, ließ sich der Coach nicht beruhigen. "Wenn Sie Blochin nicht mögen, zeigen Sie es. Aber ich lasse es nicht zu, dass Sie etwas gegen mein Team sagen", schimpfte der 59-Jährige. Auch als er wenige Minuten später den Pressesaal verließ, zeigte Blochin immer wieder zur Tür, forderte den Journalisten zum Mitkommen auf.

Blochin ist ein temperamentvoller Mann. Doch wahrscheinlich wäre es nicht zu diesem Ausfall gekommen, ohne diese andere Szene, die in der Ukraine noch in vielen Jahren für Diskussionen sorgen wird.

Es lief die 62. Minute an diesem denkwürdigen Abend in der Donbass-Arena in Donezk. Ein Schuss des ukrainischen Angreifers Marko Devic senkte sich hinter Englands Torwart Joe Hart Richtung Tor. Fast wirkte es im Stadion, als flöge der Ball in Zeitlupe. Die Ukraine hielt den Atem an. Der Ball senkte sich. Noch ein Stück. Und er überquerte die Torlinie. Knapp, aber doch deutlich für die Fernsehkameras sichtbar, bevor ihn Englands John Terry wieder ins Feld beförderte. Was die TV-Kameras einfingen, was die meisten Menschen im Stadion gesehen hatten und was als die Fehlentscheidung dieser EM-Vorrunde in die Rückblicke eingehen wird, hatte der Torrichter nicht erkannt.

Oleg Blochin tobte da zum ersten Mal an diesem Abend. An der Seitenlinie. Wild gestikulierend schrie er auf den vierten Offiziellen ein. "Wir waren besser, wir hatten die besseren Chancen", schimpfte Blochin später. "Die Schiedsrichter haben uns ein Tor gestohlen, das war ein klarer Treffer."

Er hatte recht, aber alles Jammern half nichts mehr. Nach den Polen ist auch der zweite Gastgeber der Fußball-Europameisterschaft schon nach der Vorrunde gescheitert.

Die Zeitung Podrobnosti schrieb: "EM-Aus für die Ukraine wegen eines Schiedsrichter-Fehlers. Die Wiederholung hat deutlich gezeigt, dass der Ball die Torlinie überschritten hatte. Wie konnte das passieren?" Auch für Segodnia ist der Schiedsrichter der Schuldige: "Die Ukraine verlässt die EM. Kassai - ein neues Schimpfwort. Wir haben verloren, der ungarische Schiedsrichter hat ein klares Tor nicht gegeben. Vielen Dank, ihr Nachbarn in Schwarz. Ihr habt uns einen schlechten Dienst erwiesen. Die Ukraine hat das Spiel um Leben und Tod verloren."

Dass der Fehlentscheidung des Torrichters eine Abseitsposition vorausgegangen war, dass es, hätte das Tor gezählt und 1:1 gestanden, für die Ukraine noch nicht gereicht hätte, dass sie noch ein weiteres Tor hätten erzielen müssen, um das Viertelfinale zu erreichen: All das ging in der Diskussion um den Torklau unter.

"Man braucht solche Systeme nicht"

Tatsächlich bestimmte die Ukraine gerade das Spiel, hatte nur wenige Sekunden vorher eine große Chance. Dann traf Devic, aber die Schiedsrichter sahen es nicht. "Der Treffer hätte das Spiel verändert", klagte Volksheld Andrej Schewtschenko später, "ich denke nicht, dass es Diebstahl war, aber ich verstehe nicht, warum wir keine Technologie benutzen." Der Stürmer war kurz nach dem Nicht-Tor eingewechselt worden, er hätte dazu beitragen können, das erträumte 2:1 doch noch zu ermöglichen.

Euro 2012: England - Ukraine

Oleg Blochin war nach dem Torklau kaum mehr zu beruhigen.

(Foto: dapd)

Für die Europäische Fußball-Union ist der Torklau von Donezk ein schwerer Rückschlag. Bis zu diesem letzten Vorrunden-Spieltag hatten sie in der Uefa von Schiedsrichterchef Pierluigi Collina bis zu Präsident Michel Platini noch alle das erstmals bei einer großen Veranstaltung getestete System mit den sogenannten additional assistant referees gepriesen.

"Das ist das Turnier mit den besten Schiedsrichterleistungen bisher", hatte Platini noch am Montag in seiner Vorrundenbilanz gesagt und seine Kritik an der von der Fifa favorisierten Torlinientechnologie erneuert. "Man braucht solche Systeme nicht, Technik, Satellit, GPS oder Chip im Ball", hatte der Franzose betont und gesagt, dass das legendäre nicht gegebene Tor von Frank Lampard im Spiel gegen Deutschland bei der WM 2010 in Südafrika mit einem Torrichter auf alle Fälle erkannt worden wäre. "Weil es sein Job ist, zu sehen, ob der Ball hinter der Linie ist", sagte Platini.

Nur einen Tag später sollte ihn diese Aussage einholen. Ob Zufall oder nicht - am Dienstagabend um 23:17 Uhr, also gut eine Stunde nach Spielschluss in Donezk, sagten die polnischen Organisatoren eine für Mittwoch um zehn Uhr morgens geplante Pressekonferenz ab. Teilnehmer hätten sein sollen: Turnierdirektor Martin Kallen und Uefa-Generalsekretär Gianni Infantino.

Die Diskussion um technische Hilfsmittel im Fußball sorgt seit Jahren für Kontroversen. Der Weltverband Fifa und Präsident Joseph Blatter waren lange erbitterte Gegner der Technik im Fußball. Nach den Erfahrungen bei der WM 2010 in Südafrika änderten sie aber ihre Meinung. Die Fifa ist mittlerweile entschiedene Befürworterin der Torlinientechnologie, wohingegen die Uefa und Platini auf die Torrichter setzen. Blatter fühlt sich jetzt bestätigt, twitterte am Tag nach dem Spiel, Torlinientechnologie sei jetzt keine Alternative mehr, sondern eine Notwendigkeit.

Am 5. Juli wird das International Football Association Board bei einer Sitzung in Zürich eine Entscheidung treffen. Die Richtung ist klar, nicht erst seit dem Torklau von Donezk. Anfang März hatten sich die Regelhüter des Weltfußballs "im Prinzip" auf die Einführung der Torlinientechnik geeinigt. Nach jahrelangen Tests sind noch zwei Varianten im Rennen: Der Chip im Ball (GoalRef) und die Torkamera (die aus dem Tennis bekannte Hawk-Eye-Technik). Der reine Videobeweis als weiteres technisches Hilfsmittel wurde erst einmal wieder verworfen.

Für Oleg Blochin und die Ukraine kommt das zu spät. Der Trainer hat auf der Pressekonferenz nach dem Spiel dann auch nicht nur auf den Journalisten geschimpft. 50 Zentimeter sei der Ball im Tor gewesen. "Und fünf Schiedsrichter haben es nicht gesehen", rief er verbittert. Seine Spieler dagegen äußerten sich zurückhaltend: Der Schiedsrichter sei nicht schuld, sagte Beispielsweise Anatolij Timoschtschuk. "Dass wir ausgeschieden sind, ist aber schade, weil wir so gut gespielt haben." Tatsächlich hatte die Ukraine gegen England ihr bislang bestes Spiel bei dieser EM abgeliefert. Bis zur 62. Minute.

Mit Material von dpa.

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