Ukraine gegen Deutschland 3:3:Unberechenbar, vorne wie hinten

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Beim turbulenten 3:3 in der Ukraine zeigt sich Joachim Löws neue Lust am Experiment. Mit einer völlig unüblichen Dreier-Abwehrkette will der Bundestrainer seine Elf auf Notlagen bei der EM vorbereiten. Er entkoppelt damit seine Mannschaft auch vom Vorbild Spanien und setzt auf mehr taktische Flexibilität. Doch dieser Ansatz birgt auch Risiken.

Johannes Aumüller, Kiew

Bayer Leverkusens Sportdirektor Rudi Völler mag sich an diesem Abend ganz besonders gewundert haben. Denn vor einem knappen Jahrzehnt, als er noch die deutsche Fußball-Nationalmannschaft verantwortete, hatte er sich immer anhören müssen, wie unmodern doch dieses von ihm favorisierte Modell mit der Dreierkette sei.

Kalt und bisweilen unangenehm: Der Ausflug von Bundestrainer Joachim Löw und seiner Mannschaft in die Ukraine.  (Foto: Bongarts/Getty Images)

Und nun sah Völler mit an, wie ausgerechnet der große Taktik-Stratege Joachim Löw im Freundschaftsspiel gegen die Ukraine auf dieses System zurückgriff - erstmals seit Völlers Zeiten spielte die Nationalelf so.

Es war eine Variante, die nicht so recht aufging. Mit 3:3 (1:3) endete ein turbulentes Spiel gegen den kommenden EM-Ausrichter Ukraine - und im Defensivverhalten zeigten die Deutschen gehörige Schwächen. Doch Löw wollte die Ursache für dieses Ergebnis keineswegs in seinem taktischen Experiment sehen. "Ich war mit der Dreierkette total zufrieden", sagte er. Der Dortmunder Mats Hummels, der in dem neuen Abwehrkonstrukt links spielte, ergänzte: "Wenn man zwei Kontertore und einen Treffer aus 28 Metern kassiert, hat das nichts mit der Taktik zu tun."

Was Hummels nicht erwähnte: Neben den drei Gegentreffern gab einige weitere Szenen, in denen sich die Ukrainer aufgrund von Abstimmungsproblemen in der Dreierkette gute Chancen erarbeiteten. Und beide, Löw und Hummels, unterschlugen, dass die taktische Umstellung auf ein 3-4-2-1-Modell eine weitere Folge hatte: Für die beiden Außenbahnspieler war das ein anstrengender Abend.

Im modernen Fußball decken Pärchen einen Flügel ab, am Freitagabend in Kiew liefen dort Wolfburgs Christian Träsch (rechts) und Hamburgs Dennis Aogo (links) ziemlich alleine umher. Es lag wohl auch an der Taktik, dass dieses Duo so gar nicht ins Spiel fand.

Bundestrainer Löw aber wollte sich nach dem Spiel gar nicht lange mit den analytischen Details zu diesem Spiel aufhalten. Denn für ihn stand die Dreierkette ohnehin nur beispielhaft für einen verstärkten Trend im DFB-Team: die Lust am Experiment. "Wir wollen unberechenbarer werden", hat Löw als Losung für die nächsten Monate der EM-Vorbereitung ausgegeben - und er ist auf dem besten Weg, das zu schaffen.

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Johannes Aumüller, Kiew

Bislang war es keine allzu große Kunst, die Aufstellung der Nationalelf richtig vorherzusagen. Das taktische System war immer das etablierte 4-2-3-1-Modell, und Fragen nach dem Personal ergaben sich allenfalls bei der Besetzung des zweiten Außenverteidigerpostens neben Philipp Lahm und des zweiten Innenverteidigers. Das hat sich etwas geändert. In der Defensive gibt es immer noch keine Stammbesetzung, und wenn alle fit sind, können im Mittelfeld und im Angriff wohl nur Bastian Schweinsteiger, Mesut Özil und Thomas Müller Stammplätze für sich reklamieren; daneben balgen sich Sami Khedira, der gegen die Ukraine überzeugende Toni Kroos, Andre Schürrle, Mario Götze, Lukas Podolski, Miroslav Klose und Mario Gomez um drei Positionen.

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Johannes Aumüller, Kiew

Wahrscheinlich war auch das Wissen um diese vielen guten Offensivkräfte ein Grund für Löws Dreierketten-Test - denn mit einem Abwehrmann weniger lässt sich je nach konkretem Spielsystem ein zusätzlicher Startelfplatz für ein Mitglied der Kreativabteilung schaffen.

Für Löw ist es nur logisch, diesen experimentellen Weg einzuschlagen. Das 4-2-3-1 bleibe zwar das Hauptsystem, aber "eine gute Mannschaft muss Varianten kennen", sagt er. Die Dreierkette müsse sie beispielsweise beherrschen, wenn sie in einem Turnier in Rückstand gerät und hinten aufmachen muss, wie das im Fußball-Deutsch so schön heißt. Zudem glaubt der Bundestrainer, dass die deutsche Mannschaft bei der EM öfter selbst das Spiel machen muss als es noch bei der Weltmeisterschaft in Südafrika der Fall war. Und dass sie ihren dort gezeigten Überfall-Spielstil modifizieren und erweitern muss. Schließlich vermittelt Löw mit taktischen Varianten vielen Spielern die Hoffnung, auch mal dabei sein zu dürfen.

Mit mehr taktischer Flexibilität löst sich der Bundestrainer zudem vom Vorbild Spanien. Eine Zeitlang war der deutsche Fußball wie gefesselt von dessen Prinzipien. Es schien, als legten es der Bundestrainer und sein Stab darauf an, dass ihre Mannschaft am Ende wie eine Kopie des Welt- und Europameisters spielt. Mit derselben Geschwindigkeit, mit demselben System, mit derselben Perfektion - um dann beim nächsten Aufeinandertreffen endlich, endlich zu gewinnen.

Doch schon kürzlich entschärfte Löw die Zuspitzung auf das Duell Deutschland versus Spanien, indem er auch noch ein paar Nationen zum EM-Favoriten ernannte. Nun probiert er etwas, was in Spanien schwer vorstellbar erscheint; dort käme niemand auf die Idee, am 4-3-3 zu rütteln, zu tief sitzt das in den antrainierten Genen.

Der Weg, den Löw einschlägt, hat aber auch seine riskanten Seiten. Denn zum einen könnten sich manche Spieler schon fragen, warum sie denn überhaupt etwas Neues testen sollen, wenn das Bewährte doch so gut klappt. Zum anderen bleibt dem Bundestrainer nicht mehr viel Zeit, um seine diversen taktischen und personellen Vorstellungen auszuprobieren. Bis zum Beginn der EM im Juni 2012 gibt es nur noch vier Testspiele: am Dienstag gegen die Niederlande, Ende Februar gegen Frankreich sowie im Rahmen des letzten Trainingslagers Ende Mai zwei Partien gegen noch nicht feststehende Gegner.

Eine Dreierkette, so viel deutete Löw schon an, wird es gegen die Niederländer eher nicht geben. Doch wenn Miroslav Klose bis zum Dienstag wieder fit ist, sollte sich niemand über ein deutsches System mit zwei echten Stürmern wundern.

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