Turnfest in Berlin:Energieball im Bauch

Elisabeth Seitz behält auch nach neun Jahren eine besondere Rolle in ihrem Sport: Sie kann alle mitreißen.

Von Volker Kreisl, Berlin

Da ist so etwas, sagt Elisabeth Seitz, es ist schwer zu beschreiben, aber es wirkt sich irgendwie aus. Sie tänzelt in der Mixed-Zone vor den Reportern herum, sie tritt von einem Bein aufs andere, und in ihren Augen funkelt das Licht der Scheinwerfer, während sie zu erklären versucht, woher sie ihre Kraft nimmt.

Plötzlich hat sie's: Beim Einturnen sei die Halle ja noch nicht so richtig voll, dann aber kommen immer mehr Zuschauer, und dann, schildert Seitz, "baut sich schon die Energie auf". Und wenn dann noch ihr Name vom Hallensprecher angesagt wird und das Publikum so richtig zu toben beginnt: "Dann baut sich in mir, wie soll ich sagen, so ein Energieball auf, und der wirkt sich dann irgendwie aus."

Elisabeth Seitz ist gerade dermaßen aufgedreht, dass die Reporter jetzt mindestens einen Rückwärtssalto aus dem Stand erwarten, aber sie belässt es dabei, die Arme auszubreiten, nach Art einer Weltumarmung. Sie hat hier, in der Max-Schmeling-Halle von Berlin, ihren 18. und 19. deutschen Meistertitel errungen, damit fehlt ihr nur noch einer, um den Rekord der DDR-Olympiasiegerin Karin Janz aus dem Jahr 1972 einzustellen. Und dann ist Seitz ja auch noch vor zwei Monaten EM-Dritte geworden. Das ist der eine, eher buchhalterische Aspekt ihres aktuellen Erfolges. Der andere ist pures Gefühl. Die Heidelbergerin, die seit Jahren in Stuttgart trainiert, hat mal wieder bewiesen, wie man ein Team anführt und mitreißt: indem man sich selber mitreißen lässt.

Ein Energieball. Ein interessantes Bild, das sich vielleicht der ein oder andere Motivator abschauen wird. Wie sich so ein Energieball wohl zum Beispiel am Stufenbarren auswirkt, dem Spezialgerät von Seitz? Vermutlich bewegt er sich als eine Art innere Sonne im Körper, und mit jedem Handstand, jedem Holmwechsel und Flug über die obere Stange, jedem Salto, prallt der innere Ball hin und her, bis Seitz dann nach einem Doppelsalto mit doppelter Schraube wieder sauber auf dem Boden steht.

Lange Zeit steckte sie in einem harten Duell: Seitz gegen Def

Das überträgt sich dann aufs Publikum, den Krach in der Halle kann sich jeder vorstellen. Niemand denkt da natürlich an die stillen Zeiten der Seitz, etwa als sie vor zehn Monaten in Rio de Janeiro mit nassen Augen durch die Gänge schlich, nachdem sie so knapp die Bronzemedaille am Stufenbarren verloren hatte, aber gleichzeitig ihrer Teamkameradin Sophie Scheder gratulierte, die eben jenes Barren-Bronze gewonnen hatte. Es war die erste Olympia-Medaille nach drei Jahrzehnten für eine Athletin, die aus einem der deutschen Turnverbände stammte.

Scheder ist nur drei Jahre jünger als Seitz, aber weil im Frauenturnen drei Jahre so viel wie anderswo acht Jahre sind, entspricht dies einem Generationsunterschied. Derzeit sieht es so aus: Seitz, 23, bildet mit der ebenso stabilen Kim Bui, 28, das Führungsduo im Team. Scheder und Pauline Schäfer, die WM-Dritte am Schwebebalken, haben sich als nächste Generation bereits einen Namen bei den Kampfrichtern gemacht, ebenso die 17-jährige Mehrkampf-Weltcupgewinnern Tabea Alt. Von der Ludwigsburgerin ist noch viel zu erwarten, ansonsten sollte man die Turnerinnen dieser Altersstufen ja erst einmal wachsen lassen, weil in der Jugend zu viele sportfremde Einflüsse lauern. Man sollte somit eigentlich nicht den Namen Emily Petz erwähnen, andererseits sagt Bundestrainerin Ulla Koch, die 14-jährige Stuttgarterin habe schon Sprünge drauf, mit denen sie bei den Erwachsenen in Berlin gerade deutsche Meisterin geworden wäre.

Kochs Team turnt also - anders als zurzeit die meisten Männer des DTB - international in Podiumsnähe. Und doch können sich die meisten noch etwas von Elisabeth Seitz abschauen, wie in Berlin zu sehen war. Turnen ist ja auch subjektiv, B-Kampfrichter sitzen zwar seriös und ernst wie Finanzbeamte an ihren Tischen, sind aber Menschen. Sie müssen die Haltung, aber auch die Ausdruckskraft bewerten, und da kann man durchaus punkten, wenn einen ein Energieball antreibt, der unter Umständen auf die Finanzbeamten überspringt.

Diese Kraft kommt aber nicht von ungefähr. Seitz hat schon als Jugendliche, ehe sie 2008 ins Nationalteam kam, unter ihrer ersten Trainerin Claudia Schunk viel Selbstüberwindung gezeigt und mehr trainiert als andere. Und ihren Kampfgeist hat sie später in einem ganz konkreten Duell geformt. Es ging dabei nicht gegen Konkurrentinnen, sondern gegen etwas anderes. Es ging gegen den Def.

Der Def war bis vor drei Jahren Seitz' großer Ehrgeiz. Eine phasenweise nur von ihr geturnte Höchstschwierigkeit, ein gestreckter Salto mit Schraube beim Richtungswechsel am oberen Holm. Mit diesem Element hat sie Siege errungen, aber auch herbe Niederlagen erlitten, zum Beispiel bei der WM 2010 in Rotterdam. Im Training war es stets ein Kampf, denn der Abstand des Gesichts zum Holm ist beim Salto gering. Seitz hat sich blaue Flecken geholt, einmal ein paar Zähne ausgeschlagen und auch schon die Nase gebrochen, bis sie diesen Kampf aufgab und das Element aus dem Programm strich.

Jetzt plant sie von Jahr zu Jahr, sie baut langsam ihre Form für diesen Olympiazyklus auf und wird je nach Fitness vielleicht schon bei den Weltmeisterschaften im Oktober in Montreal einen Mehrkampf anbieten. Und erläutert sie heute der Presse in der Mixed-Zone die Sache mit der Energie, dann sieht man immer noch eine feine Narbe auf ihrer Nase. Der Def ist weg, aber die Seitz turnt weiter.

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