Turnerin Elisa Chirino:Elisas Traum von Olympia endete im Rollstuhl

Turnerin Elisa Chirino: Als noch alles gut war: Elisa Chirino am Sprungtisch beim Deutschen Turnfest 2013.

Als noch alles gut war: Elisa Chirino am Sprungtisch beim Deutschen Turnfest 2013.

(Foto: Imago)

Sie galt als große Turnerhoffnung, dann stürzte Elisa Chirino schwer vom Stufenbarren - jetzt ist sie querschnittsgelähmt. Ihre größte Stütze ist ihre Schwester.

Von Anna Carina Bauerdorf, Berlin

Wenn Elisa Chirino von einem Stück Schokolade erzählt, dann liegt Wehmut in ihren braunen Augen. Die Schokolade war die Belohnung für eine komplizierte Figur auf dem Schwebebalken - erst ein Rad mit geschlossenen Beinen, dann ein Salto. Absolute Körperbeherrschung und Gleichgewichtssinn sind dafür notwendig. Für sie, die deutsche Nachwuchshoffnung im Kunstturnen, kein Problem. Als Belohnung also dieses Stück Schokolade.

Die 18-Jährige hat es bis heute aufgehoben. Es löst eine glückliche und eine schmerzhafte Erinnerung aus. "Ich will etwas haben von dem Tag, als noch alles gut war", sagt sie leise. Denn ihr Leben hat sich an einem verregneten März-Tag von einer Sekunde auf die andere komplett verändert. Ist aus dem Gleichgewicht geraten, durch eine falsche Bewegung. Ihren Körper kann sie jetzt nicht mehr beherrschen. Weil sie ihn nicht mehr spürt.

In der Welt des Hochleistungsturnens steht mal wieder eine Olympia-Qualifikation bevor. Die Spitzenathleten bereiten sich auf die WM in Glasgow vor, um es von dort zu den Spielen nach Rio de Janeiro zu schaffen. Elisa Chirino hatte auch einmal diesen Traum. Nun erzählt ihre Geschichte, wie schnell er vorbei sein kann und wie sie sich allmählich wieder zurückkämpft in ihr komplett verändertes Leben.

Der Unfall ist nun eineinhalb Jahre her, Elisa sitzt in einem Berliner Café, trinkt von ihrem Saft, beißt ab und zu vom Kuchen ab. Immer an ihrer Seite: ihre große Schwester Anita. Die wirren braunen Locken haben sie vom Vater, der kommt aus Kuba. Anita hält Elisa die Flasche an den Mund, damit die aus dem Strohhalm trinken kann, streckt ihr die Gabel mit einem Kuchenstück hin. Sie scheint zu spüren, was ihre Schwester braucht. Sie sagt, sie sei stolz darauf, "dass wir jetzt schon so weit sind".

Obwohl Anita Chirino fast immer ein Lächeln auf den Lippen hat, fällt es ihr schwer, über den Unfall zu reden. Sie war damals selber beim Sport, als die Nachricht kam: Elisa hat einen Unfall, sie ist vom Stufenbarren gefallen. Anita rast ins Krankenhaus, dort wartet die Familie - auf Elisa, auf Neuigkeiten. Die Hoffnungen werden bald zerstört. Elisa, heißt es, sei auf dem Kopf aufgekommen, der vierte und der fünfte Halswirbel seien gebrochen.

Was das bedeutet, ist ihnen noch nicht klar - schon gar nicht der 16 Jahre alten Elisa. Als sie in den Operationssaal gerollt wird und ihre Familie sieht, grinst sie. Heute erinnert sie sich: "Sie haben mich wohl mit Schmerzmitteln vollgepumpt, ich habe nicht so viel mitbekommen." Aber sie realisiert damals vielleicht doch etwas, jedenfalls weint sie, als die Ärzte für die OP ihren Turnanzug durchschneiden.

Kleine Dinge, die Hoffnung machen

Elisa lebte für das Turnen. Für das Gefühl, durch die Luft zu fliegen, für diese Freiheit. Am Boden zur Musik zu turnen war ein bisschen wie tanzen, da konnte sie als eher schüchternes Mädchen eine andere, temperamentvolle Seite zeigen. In ihrer Klasse in der Sportschule war sie die einzige Turnerin und gehörte deswegen nie einer Gruppe an - doch im Training hatte sie Gleichgesinnte. Früh war deutlich geworden, welches Talent sie besaß; sie trainierte fünf bis sechs Stunden am Tag. Mit 16 wurde sie bei den deutschen Meisterschaften am Sprung Dritte. "Da habe ich gemerkt, dass das was werden kann mit der Profikarriere", sagt sie. Sie trainierte für die Auftritte mit ihrer TSG Stegnitz in der zweiten Bundesliga, und für Olympia, um vielleicht gegen ihre Idole anzutreten.

Als Elisa nach zwei Tagen aufwacht, erklärt ihr der Arzt, dass sie querschnittsgelähmt ist. Erst langsam, nachdem sie in ein Reha-Krankenhaus verlegt worden ist, wird ihr klar, was das bedeutet: Querschnittslähmung. Den Film "Ziemlich beste Freunde" haben sie in der Schule gesehen, da freundet sich ein am ganzen Körper gelähmter Mann mit seinem ungeschickten Pfleger an. Der schüttet einmal versehentlich heißen Tee über ihn - und der Gelähmte spürt nichts. "Damals habe ich mir gedacht, das kann doch gar nicht gehen, da muss man doch was spüren."

Heute erlebt Elisa es aus der anderen Sicht. Wenn ihr Menschen die Hand aufs Bein legen, um sie zu trösten. Wenn sie ihr sagen: "Du schaffst das schon." Aber sie fragt sich: Dieses "das" - was ist es? Am Anfang hatte auch sie gedacht, dass sie irgendwann wieder laufen könne, auf Krücken vielleicht. Heute sagt sie: "Wenn einmal was kaputt ist, dann ist es kaputt!"

Mit der Zeit kommt die Erkenntnis, dass es die kleinen Dinge sind, die Hoffnung machen. Zum Beispiel, als sie ihr Handgelenk wieder bewegen, ihre Finger abwinkeln kann. Mit speziellen Handschuhen kann sie sich auch wieder schminken. Natürlich nicht so gut, wie wenn ihre Schwester sie schminkt - sagt ihre Schwester.

Das Loslassen fällt schwer

Deren wichtigste Aufgabe ist es, Elisa abzulenken, sie zum Lachen zu bringen. Sie bemalen das Schild vor dem Krankenzimmer mit Sprüchen und Fratzen, machen Blödsinn und sehen Filme, und manchmal funktioniert es auch, und sie vergessen für ein paar Stunden den Alltag - "zeitweise sind wir wie in unserer eigenen kleinen Welt", sagt Anita. Und manchmal wird Elisa auch plötzlich traurig, zum Beispiel als sie "Let's Dance" anschauen, wo Paare über das Parkett schweben. Dann wird Anita bewusst, dass sie in eines dieser Fettnäpfchen getreten ist, die überall herumstehen.

Es falle ihr schwer, das alles loszulassen, sagt Elisa. Das Leben zu Hause, mit der Mutter in einem Berliner Bezirk. Das Leben mit ihren Freundinnen. Viele haben sich abgewandt, melden sich nicht mehr. Eine Freundin hat ihr gesagt, dass sie einfach nicht damit umgehen kann, dass sie nicht weiß, wie sie sich ihr gegenüber verhalten soll. Elisa würde ihr gerne zeigen, wie sie behandelt werden will. Denn offen darüber zu reden, das sei das Beste.

Sie könnte ihr zum Beispiel sagen, dass sie wieder möglichst unabhängig werden will. Dass sie den Willen hat, sich wieder Träume zu erfüllen. An ihrem 18. Geburtstag ist sie mit Freundinnen in eine Bar gegangen, und danach in den Club. Bald will sie in eine eigene Wohnung ziehen, nicht weit entfernt von zu Hause - "mit 18 zieht man ja sowieso aus", sagt sie.

Elisa Chirino möchte anderen Menschen, die vielleicht in einer ähnlichen Situation stecken, Mut machen. Sie sollen nicht den Kopf hängen lassen. Es wird zwar nie wieder so, wie es war, sagt sie, "aber es wird immer besser, das sieht man ja an mir".

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