Turnen:Abschied vom Zitterbalken

Lesezeit: 3 min

Mit neuer Leichtigkeit: Elisabeth Seitz, die auch im Einzel am Stufenbarren das Finale erreicht hat, beim Team-Wettkampf am Schwebebalken. (Foto: Ezra Shaw/Getty Images)

Früher haben die deutschen Frauen im Turnen vor allem schwere Übungen hinter sich gebracht, heute genießen sie ihre Auftritte - und stehen damit im Team- und Mehrkampffinale.

Von Volker Kreisl

Nun ist Ulla Koch auch der Stromausfall im Olympischen Dorf egal, und wenn der Aufzug mal nicht fährt, dann lässt sich das unter diesen Umständen auch verkraften. Und darüber, dass es zwischendurch kein fließendes Wasser im Zimmer gibt, sagt Koch, "kann ich mich jetzt auch nicht aufregen". Die Turn-Bundestrainerin steht gerade vor den Journalisten, und sie hat die olympische Welt trotz ihrer Pannen und Hindernisse plötzlich uneingeschränkt gern. Denn das, worauf es ankommt, worauf alle seit zehn Jahren hinarbeiten, scheint in Rio endlich aufzugehen.

Die deutschen Turnerinnen stehen nach der Qualifikation am Sonntagabend im olympischen Team- und Mehrkampffinale; Elisabeth Seitz und Sophie Scheder haben zudem den Endkampf am Stufenbarren erreicht, mit Außenseiterchancen auf eine Medaille. Das klingt zunächst nicht herausragend, denn die favorisierten Mannschaften aus den USA, China, Russland und Großbritannien bleiben weit vorne. Und doch hat Kochs deutsches Team bei Olympia, wo die Gegnerinnen stets mächtig auftrumpfen und die Punktrichter strenger werten, einen Schritt nach vorne gemacht. Es hat sich in den Wertungen und im Auftreten als Finalist etabliert.

Auffällig war in dieser Qualifikation, mit der ja im Turnen immer alles steht und fällt, dass das Zittern aufgehört hat. Vor allem am Schwebebalken, der in Deutschland immer Zitterbalken hieß, war das gut zu beobachten. Vor acht Jahren war es noch die Ausnahme, wenn eine von Kochs Turnerinnen mal nicht abstürzte, heute ist es umgekehrt. Nur eine von Vieren, Sophie Scheder, musste absteigen, aber es gingen ja nur drei Benotungen in die Wertung ein.

Fürs Podest müssen sie wohl auf Fehler der anderen hoffen

Nach dem Wettkampf wirkte die deutsche Mannschaft so aufgekratzt, als wäre sie gerade von einer langen, bedröhnenden Party heimgekehrt. "Das hat dermaßen Spaß gemacht", sagte Elisabeth Seitz, "hier reinzugehen und für Deutschland anzutreten und zu wissen, wir können das." Kim Bui, die 27-Jährige, die schon seit zehn Jahren im Nationalteam turnt, hat so etwas wie in Rio auch noch nicht erlebt. "Diesmal ist der Wettkampf nicht wie in einem Film an einem vorbeigerauscht, es war bewusster, man konnte es genießen - einatmen!" Es ging offenbar nicht mehr ums Hinter-sich-bringen, sondern ums Erleben. So gelingt dann eben auch eine Spitzennote für deutsche Verhältnisse: 173,263 Punkte und Platz sechs wurden es, derart komfortabel ist Deutschland noch nie in ein Olympiafinale eingezogen. Am Ende hatte die Riege keine Übung mit einem schwereren Fehler in die Wertung gebracht.

Leicht enttäuscht war nur Pauline Schäfer, bei den Weltmeisterschaften in Glasgow noch Bronzegewinnerin am Schwebebalken. Sie hatte sich mehr ausgerechnet, doch Olympia ist eben keine Weltmeisterschaft. Ein Wackler und ein bisschen Nachrudern bei ihrem passabel gestandenen Schäfersalto genügten für rabiate Punktabzüge. Schäfer erreichte nur 14,4 Punkte, zunächst war das noch der achte und damit letzte Finalplatz, aber nur für kurze Zeit.

Schon in der nächsten Runde waren die Amerikanerinnen dran, die mit gewohnter Präzision dem Rest der Welt zeigten, wer in diesem Sport auch in Rio Gold holen wird. Die US-Frauen distanzierten die übrige Konkurrenz mit zehn Punkten Vorsprung und rückten in fast alle Finals doppelt ein, auch ins Schwebebalken-Finale - Schäfer wurde in der Liste nach unten gereicht.

Doch das Abrutschen färbte nicht auf die Stimmung ab. So ein kollektives Selbstbewusstsein entsteht ja über Jahre. Über das gemeinsame Training, das Stärken der Landesstützpunkte, über das Schulen und Einbinden der Landestrainerinnen in die großen Pläne. Kochs Turnerinnen vergleichen sich seit geraumer Zeit ständig auf hohem Niveau und treffen sich zu längeren Lehrgängen in der Frankfurter Zentrale. Mit dem Finaleinzug hat die Mannschaft ein Zwischenziel erreicht, und auch wenn die Deutschen nie die professionellen Möglichkeiten haben und auch nicht den psychischen Druck auf die Heranwachsenden aufbauen wollen wie die Turnsysteme in den USA, in Russland oder China, so dürfte das Projekt noch nicht am Ende sein.

Das Vorbild für weiteren Fortschritt bleibt der Stufenbarren. Vor allem die 22 Jahre alte Elisabeth Seitz hatte diesen schon früh als Lieblingsgerät auserkoren, viele deutsche Titel gesammelt und doch lange gebraucht, bis sie sich wirklich mit den beiden Holmen angefreundet hat. Einige Jahre experimentierte sie, versuchte, die unangenehme Salto-Schrauben-Kombination Def zu integrieren, aber letztlich führte das eher zu Blessuren als zu Erfolgen. Seitz ließ den Def draußen und nahm andere Elemente auf, im Finale kann sie nun einen Ausgangswert von 6,8 aufbieten, Sophie Scheder kommt auf 6,6 Punkte. Fürs Podest müssten sie auf Fehler der Russinnen und der US-Turnerinnen hoffen, doch wenn ihnen die Übung einfach nur gelingt, dann dürfte die Party der deutschen Turnerinnen in Rio auch ohne Medaille weitergehen.

© SZ vom 09.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: