Turn-WM in Montreal:Der Traum vom Fliegen

Rio 2016 - Turnen; Braegger

Bei den Olympischen Spielen in Rio wurde Pablo Brägger (hier an den Ringen) Neunter am Reck. Doch der Europameister will mehr.

(Foto: Tatyana Zenkovich/dpa)

Der stärkste Europäer am Reck, der Schweizer Pablo Brägger, kämpft bei der WM um eine Medaille. Er hat dabei auch einen deutschen Konkurrenten.

Von David Wiederkehr, Zürich

Ein Schlag mit den Beinen. Ein Ruck durch die Arme. Dann der Moment, das Staunen, der Flug. Magnesia flirrt durch die Luft, der Waghalsige ebenso. Und fängt sich Millisekunden später sicher mit seinem Griff wieder auf. Erleichterung, im Idealfall. Willkommen zur Flugshow am Reck. Dem Königsgerät. Dem Spektakelgerät. Nirgends ist Kunstturnen faszinierender und atemberaubender und rastloser als an dieser Metallstange, fixiert mit Spanndrähten auf 2,78 Metern Höhe. Und die pure Lust ist es nicht nur für das staunende Publikum. "Das Glücksgefühl am Reck ist ganz extrem", schwärmt Pablo Brägger.

Der 24-jährige Ostschweizer muss es wissen, schließlich ist er aktueller Europameister an diesem Gerät. Es war der größte ­Erfolg seiner Karriere. Und Brägger ist darum auch einer der vielen Medaillenkandidaten bei der Turn-WM in Montreal, die am Montag mit der Qualifikation der Männer ­beginnt. Sieht er sich seine EM-Übung im Video an, bekommt er noch immer jedesmal Gänsehaut. Aber Brägger ist auch wohl bewusst: ein einziger Fehlgriff, und der Traum ist vorbei. Und die Landung auf der Matte hart. Das Reck verzeiht nichts.

Der Traum vom Fliegen lebt und steckt in jedem Kunstturner und jeder Kunstturnerin. Es geht beim Turnen weniger um schneller oder weiter, aber sehr wohl um höher. Denn: Höhe bedeutet Zeit und Platz, noch einen Salto mehr zu drehen oder noch eine Schraube zusätzlich. Ein schwieriger Sprung wie der Tschussowitina wäre für Giulia Steingruber nicht auszuführen, könnte sie sich nicht stark genug vom Tisch katapultieren - in eine möglichst lange Flugphase.

Beim Reck verstärkt sich dieser Effekt, weil Rotation und Fliehkraft hinzukommen. Und bei Flugelementen das Gefühl der Schwerelosigkeit, ehe die Gravitation gnadenlos zurückschlägt. "Natürlich hält dieses wundervolle ­Gefühl nicht lange, nicht einmal eine ­Sekunde, trotzdem ist es Wahnsinn", sagte Fabian Hambüchen einmal, der zurückgetretene Olympiasieger von 2016.

Videos auf Youtube deuten es an: Fliegen macht süchtig

Und wer sich auf Youtube Videos von Epke Zonderland ansieht, dem fliegenden Holländer, wie er während eines Trainings ein Flugteil nach dem nächsten aneinanderreiht und sich erst nach 24 ­erschöpft in die Matte fallen lässt, der ahnt: Die Reckkünstler müssen süchtig sein nach dem Fluggefühl. Sind sie auch, sagt Hambüchen, der schon mit dem Fallschirm abgesprungen ist und gerne einmal bei einem Parabelflug mitmachen würde.

Warum auch Pablo Brägger nichts lieber tut als Reckturnen: "Weil es Flüge sind, die ich kontrollieren kann." Hambüchen pflichtet ihm bei: "Fliegen ist deshalb so geil, weil ich immer genau weiß, wo ich bin." Den Griff wieder zu finden, ist irgendwann ein antrainierter Reflex. Aber ja: Einer perfekten Übung, wie sie Brägger im EM-Reckfinale Ende April in Cluj, Rumänien, ­gelungen war, als er vor seinem Teamkollegen Oliver Hegi den ­Titel gewann, gehen tausende Trainingsstunden voraus. Oder richtiger: zehntausende. Zuerst mit Landungen in der Schnitzelgrube, nachher auf den dünnen Matten.

Cassina, Kolman, Tkatchew oder Moznik - die schwierigen Flugteile in Bräggers Übung tragen die Namen ihrer waghalsigen Erfinder. Dahinter verstecken sich gestreckte Salti oder gebeugte, ­Elemente mit Schrauben und solche mit versetztem Griff. Punkte bolzen die Turner vor allem, wenn sie die Flugteile ohne Zwischenschwung aneinanderreihen. Bei Brägger waren es in Cluj zwei, der fliegende Zonderland trainierte im Vorfeld der WM fünf. Entstanden sind Flugelemente am Reck in den Siebzigerjahren. Davor, als die Schweizer zu den Weltbesten zählten, hatten die Turner vor allem ­Varianten von Riesenfelgen, Kippen und der Grätsche des Schweizer Olympiasiegers Sepp Stalder gezeigt.

Der Deutsche Eberhard Gienger prägte die Szene mit seinem bis heute weit verbreiteten Gienger-Salto. Später kamen immer wildere Kreationen, der Fantasie sind abgesehen von der Physik kaum Grenzen gesetzt. Jetzt ist es ein weiterer Deutscher, der das gegenwärtig schwierigste Element an diesem Gerät turnt: Andreas Bretschneider mit einem Doppelsalto mit Doppelschraube über der Stange.

Der Albtraum: der schmerzhafte Sturz auf die Stange

Eines war dem jungen Eberhard Gienger damals genauso vertraut wie heute Bretschneider, Zonderland oder Pablo Brägger: Ein Turner stürzt hunderte Male, ehe er ein Element beherrscht. Vom Reck nun einmal aus großer Höhe. "Doch daran gewöhnt man sich", erzählt der Schweizer mit einem Lachen. Und fügt an: "Irgendwann weisst du, wie du stürzen musst, damit es nicht zu fest weh tut." Der Albtraum, ein Sturz auf die Stange, kommt nur selten vor.

Wann aber spürt der Turner, dass es nicht reicht? Dass nun der Fehler passiert und der Sturz nicht zu vermeiden ist? Natürlich ist auch dieses Gefühl ausgeprägt, sagt Brägger: "Das merke ich schnell."

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