Turn-Europameisterschaft:Beidfüßig in die Luft

iPro Sport World Cup of Gymnastics - Previews

Spezialgerät Schwebebalken: Die Ludwigsburgerin Tabea Alt turnt zwar gern auf dem schmalen Grat herum, ist aber im Grunde vielseitig talentiert.

(Foto: Dan Istitene/Getty Images)

Die Turnerin Tabea Alt hat bei der EM in Cluj erstmals Medaillenchancen - was die 17-Jährige am Schwebebalken kann, ist weltweit gerade unübertroffen.

Von Volker Kreisl

Kein Körper ist ganz symmetrisch. Rechter und linker Arm entwickeln sich zum Beispiel unterschiedlich. Es gibt Rechts- und Linkshänder, im Sport Rechts- und Linksfüßler und im Turnen Rechts- und Links-Abspringerinnen. Für Frauen ist das am Schwebebalken meistens hinderlich, nicht aber für Tabea Alt, denn ihr Körper ist fast symmetrisch.

Die Turnerin aus Ludwigsburg springt rechts wie links in erstaunliche Höhen, deshalb gelingt ihr auch diese Dreifachkombination, die ihre Balkenübung zu einer der besten Vorführungen der Welt macht. Und weil sie auch an den drei anderen Geräten hohe Ausgangswerte zeigt, wächst unter Beobachtern jetzt eine gewisse Aufregung um die 17-Jährige. Von ihrem Talent wurde seit einiger Zeit geraunt; die Frage war, ob sie es im Wettkampf umsetzen kann. Vor vier Wochen gewann Alt den Mehrkampf-Weltcup in Stuttgart, vor zwei Wochen auch den in London. Bei der EM in Cluj/Rumänien werden von Freitag an zwar stärkere Konkurrentinnen dabei sein, Alt hat dennoch Chancen auf eine Medaille.

Zum Beispiel am Balken mit seiner speziellen Logik. Weil dieses Gerät nur zehn Zentimeter breit ist, lassen sich die Füße nicht nebeneinander setzen. Der schwächere Fuß steht hinten, der sprungstärkere vorne, zum Beispiel der rechte. Nach einem Rad in der Luft landet die Turnerin also wieder mit rechts vorne, soweit das kleine Balken-Einmaleins. Turnerinnen streben aber nach Höherem.

Deshalb macht Alt beim freien Rad noch eine halbe Drehung in der Luft, landet mit dem Rücken zur weiteren Sprungrichtung und hat nun automatisch den linken Fuß vorne. Für die meisten wäre der Fluss der Bewegung nun beendet, denn sie müssten einmal kurz umspringen. Die beidfüßige Alt kann aber auch links abspringen und dann die Kampfrichter in Staunen versetzen: Sie fügt ansatzlos einen gestreckten Salto rückwärts an, landet - und springt dasselbe noch mal. In London ruderte sie zwar kurz mit den Armen, aber sie stand, und die Rechnung ging auf: Drei schwere Einzel-Elemente plus vier Extrazehntel für deren Verbindung, das allein ergibt schon 1,4 Punkte. Die ganze Übung ist 6,3 Punkte wert, nach allem, was die Trainer so wissen, ist dies weltweit gerade unübertroffen.

Tabea Alt kommt gerade recht: Die Vorzeigeturner des DTB ziehen sich allmählich zurück

Tabea Alt erscheint aus Sicht des Deutschen Turnerbundes (DTB) genau in der Phase auf dem Sieger-Podium, in der die Poster-Gesichter der vergangenen Jahre allmählich verschwinden. Philipp Boy, der WM-Zweite im Mehrkampf, hat schon vor vier Jahren aufgehört, Fabian Hambüchen, der ja nicht nur Reck-Olympiasieger ist, sondern immer auch ein starker Mehrkämpfer war, zog sich nach Rio zurück. Marcel Nguyen, unter anderem Olympia-Zweiter im Mehrkampf von London 2012, macht zwar weiter, aber nicht mehr an allen Geräten. Und das Frauenteam von Bundestrainerin Ulla Koch holt zwar nun auch internationale Medaillen, aber nur an Einzelgeräten. Die letzte Vierkampf-Medaille holte Elisabeth Seitz bei der EM vor sechs Jahren; das war damals Silber.

Turnen ist ein Sport im Raum, im Laufen, im Hängen und Fliegen, in allen möglichen Varianten. Genau das, sagt Tabea Alt, interessiere sie: "Der Reiz ist die Vielseitigkeit." Sie bezeichnet zwar den Schwebebalken als ihr Spezialgerät, aber sehr viel schlechter ist sie am Boden, beim Sprung und am Stufenbarren auch nicht. Die Ausgangswerte erreichen jetzt schon oberes Niveau, beispielsweise hat sie eine Doppelschraube beim Sprung im Programm. Koch schätzt Alts Potenzial als außergewöhnlich ein: "Es reicht, um nach oben zu kommen - ob sie sogar ganz oben ankommt, muss man noch abwarten." Goldmedaillen auf Weltniveau hängen in einem Sport, der im Entwicklungsalter stattfindet, zu stark von Verletzungspausen und anderen Unwägbarkeiten ab.

Das Absurde beim Spitzenturnen ist, dass eine wie Alt einerseits grob 30 Stunden pro Woche vor und nach der Schule trainiert und somit keine Zeit für ein normales Teenager-Leben hat, andererseits aber mit Leichtigkeit dabei sein sollte. Nur dann hält man durch, über viele Jahre, an allen Geräten. Alt stammt aus einer Turnerfamilie, sie hat schon immer mit Freude Bewegungen einstudiert, bei denen sich andere verletzen. Sie hat mit Marie-Luise Probst-Hindermann und Robert Mai, ihren Heimtrainern, geduldig ein Element nach dem anderen erlernt, und sie steht dafür seit Jahren morgens um halb sechs auf. Aber Alt hat auch eine Art Abmachung mit sich selbst: "Ich verzichte auf ein normales Leben, da ist es wichtig, vom Turnen etwas zurückzubekommen." Es könnte nun so weit sein. Die kommenden Tage in Cluj, aber auch das ganze Jahr 2017 mit der WM in Montreal im Oktober könnten den Start ihrer internationalen Karriere markieren.

In London war sie zum Abschluss ihrer Balkenübung bei der Landung übrigens vornüber gestürzt. Das gibt starke Abzüge in der Gesamtnote und bringt auch die innere Balance durcheinander, was Kochs Turnerinnen immer wieder zu schaffen macht. Dabei sollte man Fehler immer ganz schnell abhaken, nur ist das leichter gesagt als getan. Auch Tabea Alt erzählt, dass sie zweifelte, jedoch nur kurz. Dann stand sie zur letzten Mehrkampfübung auf der Bodenmatte und turnte drauflos, kraftvoll und leicht.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: