Türkische Nationalmannschaft:Mindestens ein blaues Auge

Nach dem Skandal-Spiel von Istanbul droht der Türkei der Ausschluss aus der nächsten WM-Qualifikation.

Tobias Schächter

Es waren wunderschöne Bilder, die am Mittwochnachmittag vom anderen Ende der Welt um den Globus gingen. Gewinner trösteten Verlierer, schüttelten sich die Hände und tauschten die Trikots. Es war um den Traum gegangen, den jeder Fußballer träumt: die Teilnahme an einer Weltmeisterschaft.

Türkische Fans

Türkische Fans begrüßen die Schweizer bei dem WM-Qualifikationsspiel in Istanbul in der Hölle

(Foto: Foto: dpa)

Für die Australier erfüllte er sich, für die Spieler aus Uruguay nicht, aber sie gingen als Freunde auseinander. All dies war auch im türkischen Fernsehen zu sehen. Ein großes Beispiel für wahren Sportsgeist nannte ein Reporter der türkischen Zeitung Radikal diese Gesten in einer Live-Sendung des TV-Kanals CNN-Türk kurz vor Beginn des entscheidenden WM-Qualifikationsspiels der Türkei gegen die Schweiz am Mittwochabend im Istanbul.

Provoziert und verschlagen

Die von dem Journalisten geäußerte Hoffnung, dass es nach dem Abpfiff im Sükrü Saracoglu Stadion von Fenerbahce ähnlich fair zugeht, erfüllte sich nicht: Spieler und Betreuer aus der Schweiz flüchteten schnellstmöglich in die Kabine.

Am Donnerstag war in türkischer Zeitungen ein Bild zu sehen, wie ein Betreuer der türkischen Mannschaft dem Schweizer Spieler Benjamin Huggel in den Hintern tritt. Und es war eines zu sehen, wie Huggel den Türken Alpay nach unten drückt, mit seinen Händen an dessen Nacken klebend. Die Türken behaupten, sie wären von den Schweizern "provoziert" (Hakan Sükür) worden; die Schweizer behaupten, sie wären von den Türken "verschlagen" worden (Marco Streller).

Raphael Wicky, Profi beim Hamburger SV, berichtete: "Die Altintop-Brüder (ebenfalls in der Bundesliga beschäftigt/Anm.) haben mich in die Mitte genommen, gegen ihre eigenen Mannschaftskollegen verteidigt und in die Kabine gebracht. Wenn die beiden nicht gewesen wären, dann gute Nacht."

So lange der offizielle Bericht der Fifa nicht vorliegt, sind Wahrheit und Gerücht kaum zu unterscheiden. Als gesichert gilt: Im Kabinengang kam es zu Schlägereien zwischen Spielern beider Teams. Auch türkische Sicherheitskräfte und Ordner schlugen auf die Schweizer ein. 4:2 hatten die Türken zwar gewonnen, aber nach dem 0:2 vom Hinspiel fehlte ein Tor, um sich für die WM 2006 in Deutschland zu qualifizieren.

Mindestens ein blaues Auge

Nach dem Hinspiel vom Samstag hatte sich die Hetze in den Boulevardblättern beider Länder verselbständigt. Mahnende Stimmen fanden kaum noch Gehör. Das Ergebnis war eine unsäglich aggressive Stimmung während der quälend langen 98 Minuten. Von der Nationalhymne der Schweiz war kein Ton zu hören, so laut waren die Pfiffe der Türken. Der Schweizer Trainer Jakob Kuhn war am Ende umgeben von Fahnenstangen, Wasserflaschen, Münzen und Feuerzeugen, die von der Tribüne auf ihn geworfen wurden. Nach dem Tor der Schweizer durch Marco Streller zum 2:3 in der 84. Minute war der 62-jährige Kuhn von einer Münze am Hals getroffen worden.

Terims Verschwörungstheorien

Bei der Eskalation der Gewalt nach dem Spiel im Kabinengang wurde der Schweizer Ersatzspieler Stephane Grichting von einem Tritt in die Geschlechtsteile (angeblich von einem Sicherheitsbeamten) getroffen; er wurde mit Verdacht auf innere Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Ein Auge des Schweizer Torwarttrainers Erich Burgener war nach einem Schlag blau angeschwollen.

Am Donnerstagmorgen ließ Fifa-Präsident Joseph Blatter verlauten, dass die Türkei mit einer harten Strafe zu rechnen habe: Pflichtspiele unter Ausschluss der Öffentlichkeit sowie hohe Geld- und persönliche Strafen stehen zur Debatte; selbst den Ausschluss aus der nächsten WM-Qualifikation zog Blatter in Erwägung. Alleine dies wird weitere Verschwörungstheorien in den türkischen Medien nach sich ziehen. Blatter ist Schweizer, und schon bei der Auslosung der Relegations-Paarungen wurde das als nachteilig für die Chancen der Türkei gewertet.

Fakt ist: Der stolze WM-Dritte von 2002 ist nicht dabei beim Großereignis in Deutschland. Das hat vor allem sportliche Gründe, von denen Nationaltrainer Fatih Terim direkt nach dem Spiel versuchte abzulenken, indem er eine neue Verschwörungstheorie entwickelte. "Freunde", fragte Terim die türkischen Journalisten, "wie kann man gewinnen, wenn man zweimal gegen zwölf Schweizer antritt?" Als zusätzliche Schweizer Spieler waren die Schiedsrichter gemeint, die allerdings in beiden Spielen keine entscheidenden Fehler machten.

Installation eines selbstherrlichen Diktators

Schiedsrichter für Niederlagen verantwortlich zu machen, gehört im türkischen Fußball zur Tagesordnung. Schon vor dem Rückspiel schürte Terim, den sie in der Türkei wegen seiner früheren Erfolge "Imparator" (Kaiser) nennen, die Emotionen. Der 52-Jährige setzte die Strategie der Verschwörungstheorien vor allem fort, um von seinem eigenen Versagen abzulenken.

Mit der Installation des selbstherrlichen Diktators, der den reformwilligen, von den Medien aber ungeliebten Ersun Yanal vor fünf Monaten ablöste, setzte in der türkischen Nationalmannschaft eine Restauration ein. Terim berief einige von seinem Vorgänger ausgemusterte Altstars wie den Stürmer Hakan Sükür, 33, wieder ins Team; der gab im übrigen nach dem Spiel gleich seinen Rücktritt bekannt

Es wunderte nicht nur Jakob Kuhn, dass die Türken "bei so viel Talent ein Kick and Rush nach alter Art" spielten. Terims einfache Taktik, den Gegner einzuschüchtern und mit hohen Bällen in die Spitze auf Sükür Gefahr zu erzeugen, wäre beinahe aufgegangen.

Die junge Schweizer Mannschaft war der erhitzten Stimmung an diesem Abend nicht gewachsen, obwohl sie bereits nach dreißig Sekunden durch einen Elfmeter von Alexander Frei führte. Alpay vom Bundesliga-Klub 1.FC Köln hatte den Ball mit der Hand gespielt. Zweimal Tuncay (21. und 38.) - der später auch zum 4:2 traf (89.) - sowie Necati (52., Foulelfmeter) sorgten für das 3:1 der Türken, ehe ein schwerer Fehler von Togay den Anschlusstreffer von Streller ermöglichte.

Große Zeiten für Schweizer Fußball

Trotz der ersten Niederlage in dieser Qualifikation schaffte die Schweiz unter Jakob Kuhn die erste WM-Teilnahme seit 1994. Sein Konzept der konsequenten Verjüngung und der kontrovers diskutierten Ausmusterung alter Diven wie Sforza und Henchoz brachte Erfolg.

Der Schweizer Fußball steht als WM-Teilnehmer und Gastgeber der Europameisterschaft 2008 vor großen Zeiten. Dem türkischen Fußball hingegen drohen nicht nur wegen des zu erwartenden harten Fifa-Urteils erhebliche Turbulenzen. Nachdem Verbandsboss Levent Bicakci gerade bekräftigt hatte, mit Fatih Terim, jenem alten Mann von gestern, in die Zukunft gehen zu wollen, sagte ein türkischer Boulevardjournalist: "Die Geier kreisen schon." Er meinte über dem Haupt Bicakcis.

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