TSV 1860 München:Aus dem Bürgerkrieg ins Grünwalder Stadion

TSV 1860 München: "Ich merke das Fehlen der drei Jahre", sagt Mohamad Awata, 24, über die Folgen des Krieges.

"Ich merke das Fehlen der drei Jahre", sagt Mohamad Awata, 24, über die Folgen des Krieges.

(Foto: Claus Schunk)
  • Mohamad Awata floh als einer der besten Fußballer Syriens vor den Bomben des Krieges nach München.
  • Beim TSV 1860 erhielt er Anfang des Jahres einen Vertrag und kämpft dafür, drei fußballlose Jahre wieder wettzumachen.
  • Seine Anwesenheit in der Kabine erinnert die Löwen-Spieler daran, wie priviligiert sie eigentlich sind, Profifußballer in Deutschland zu sein.

Von Christoph Leischwitz

Sie waren zu acht. Mohamad Awata hat bis heute keine Ahnung, was aus den anderen sieben geworden ist. Der Tunnel, durch den sie flohen, war vier Kilometer lang. Eigentlich sind diese Tunnel im syrischen Bürgerkrieg dafür gedacht, Medikamente und Lebensmittel in ein abgeriegeltes Gebiet hinein zu schmuggeln. Aber manchmal benutzen ihn Menschen auch in die andere Richtung, für die Flucht. Mohamad Awata gelang sie nach langem Warten am 1. Januar 2016. Ein paar Tage später überquerte er die Grenze zur Türkei. Was Awata als Erstes machte: Er besorgte sich einen Fußball. "Die anderen Flüchtlinge haben immer gefragt: Wo schlafen wir heute Nacht, wo gibt es was zu trinken. Und ich habe zusätzlich gefragt: Wo kann ich trainieren", erzählt er. Es war die Stunde Null für einen Fußballer.

Izmir. Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich. Ein paar Stunden verbrachte er in München am Hauptbahnhof, ohne zu ahnen, dass er hier bald leben würde. Zunächst wurde Stuttgart seine Heimat. Den VfB, ja, den kannte er natürlich aus dem Fernsehen, ein Bundesliga-Spiel sah er live. Mittrainieren durfte er für eine Weile beim Kreisligisten SV Sillenbuch. Über entfernte Verwandte mit Kontakten zum TSV 1860 München bekam er dann die Chance, bei den Löwen im Probetraining vorzuspielen. Chefcoach Daniel Bierofka zeigte zunächst kein gesteigertes Interesse an dem Probespieler, Awata war ihm nicht schnell genug.

Seit Januar 2017 hat Awata einen Vertrag bei den Löwen

Die Geschichte von Mohamad Awata, 24, ist die Geschichte einer Flucht, aber auch die einer Aufholjagd. Die Suche nach einer Antwort auf die Frage: Wieviel Fitness und Spielintelligenz kann man sich zurückerobern, wenn einem der Krieg mehrere Jahre Lebensspielzeit weggebombt hat? Awata gehörte in Syrien zu den größten Talenten, er war Junioren-Nationalspieler und Mittelfeldspieler beim renommierten Klub Al Wahda in Damaskus. Danach aber nahm ihm der Krieg nach eigener Aussage drei Jahre lang jegliche Trainingsgrundlage.

Als Bierofka das hörte, wollte er Awata eine Chance geben, eine langfristige. "Ich war beeindruckt von seiner Vita", sagt Bierofka, "und davon, wie er sich jeden Tag durchbeißt." Awata wirkt immer fröhlich, glücklich über die Chance, die sich ihm bietet. Seit Juli vergangenen Jahres trainiert er in München, seit Januar 2017 hat er einen Vertrag, zurzeit ist er Stammspieler der U21 in der Bayernliga. Und hofft, weiter vom Fußballspielen leben zu können.

Ein Wirtschaftsflüchtling also? Ist er etwa aus Syrien geflohen, damit er hier Fußball spielen und Geld verdienen kann?

Im Fall Awatas wird schnell klar, wie sinnlos diese Stammtisch-Kategorisierungen sind. Ja, Fußball will er spielen, um so seine Familie dabei zu unterstützen, zumindest die Region zu verlassen. Um sie davor zu bewahren, zu sterben wie seine Mutter und sein Onkel. Eine Rakete hatte das Haus getroffen, in dem die Awatas wohnten. Es war der 25. Oktober, er jährt sich bald zum dritten Mal.

Die Frontlinien in diesem unübersichtlichen Bürgerkrieg bestimmen auch so banale Dinge wie die Frage, welcher Fußballer wohin transferiert wird. Awata floh deshalb nach Europa, weil er eingekesselt war und nicht einfach ausreisen konnte. Anderen Spielern aus anderen Regionen gelang das vergleichsweise unproblematisch, viele kicken nun recht erfolgreich in Jordanien oder Saudi-Arabien. Und stehen nach wie vor der Nationalmannschaft zur Verfügung, die kürzlich in der WM-Qualifikation knapp an Australien scheiterte.

Awata zeigt den 1860-Profis, dass ihr Leben nicht selbstverständlich ist

Fußball nicht nur als Berufung, sondern als Existenzgrundlage - der Trainer Bierofka sieht das Potenzial, der Mensch Bierofka erkennt die tiefere Bedeutung. Er integriert Awatas Erfahrungen in den Trainingsalltag - und verschiebt dadurch dessen Parameter. "Wir müssen hier keine Angst um unser Leben haben. Und Mo... Mo hat in der Kabine alles erzählt", sagt er. So mache er anderen Spielern klar, dass alles nicht so selbstverständlich sei, was sie vorfänden. Er werde "Mo" immer unterstützen, sagt Bierofka. Und der gesamte Verein, von Hasan Ismaik bis zu mehreren Mitarbeitern im Nachwuchs-Leistungszentrum, half mit, eine Sondergenehmigung für Awata zu erwirken, mit der er von Baden-Württemberg nach Bayern umziehen konnte. Und die es ihm zum Beispiel auch erlaubt, ins Trainingslager nach Österreich mitzureisen. Selbstverständlich war auch das nicht. Im Übrigen, wie viele Beteiligte sagen, auch nicht von Behördenseite.

Was alles auf der Strecke bleibt, wenn man an einem Ort lebt, an dem es keine Fußbälle gibt: Zweikampfhärte, Robustheit, das Timing für Pässe und Laufwege, und vor allem: Spielpraxis. Awata legt grundsätzlich Extraschichten ein, auch in der Fastenzeit. Besonders geholfen hatte ihm Linksverteidiger Christian Köppel, die beiden hatten sich schnell angefreundet.

In der Bayernliga erzielte Awata acht Tore, zuletzt traf er doppelt

Die Aufholjagd geht weiter. "Nein, ich bin nicht mit meiner Leistung zufrieden, ich merke das Fehlen der drei Jahre", sagt Awata. In der vergangenen Saison stand er bereits sieben Mal auf dem Platz, das erste Mal in der Startelf ausgerechnet im März im Derby gegen den FC Bayern II. Damals zeigte er nach dem Spiel mit fröhlichen Augen auf den Löwen auf seinem Trikot.

Rein karrieretechnisch lief es für Awata gar nicht mal besonders gut, der Abstieg der Profis verdrängte ihn aus dem Regionalliga-Team. "Die Konkurrenz in der Offensive ist schon enorm" sagt Bierofka, der im 4-3-3-System keine Verwendung für einen Zehner hat und Awata deshalb wegen seiner Kopfballstärke im Sturm einsetzte. Doch Awata freut sich einfach, weiter bei den Profis trainieren zu dürfen und so oft er will. "Ich habe einen sehr guten Trainer, der mir die Software des deutschen Fußballs installiert. Ich lerne nicht nur Deutsch, sondern auch deutschen Fußball." Und seine Konkurrenten sind zudem die besten Lehrer. Spieler wie Timo Gebhart oder Sascha Mölders machen mit ihrer Bundesliga-Erfahrung die gesamte Mannschaft besser.

Wie weit er aufholen kann? Weder Awata noch Bierofka wissen es, es gibt keine Erfahrungswerte. Awata schätzt, dass das Niveau der syrischen Liga irgendwo zwischen der dritten und vierten deutschen Liga angesiedelt ist. Er gehörte dort zu den Besten, doch im Moment spiele er noch nicht auf seinem alten Niveau. "Er kann zweifelsfrei Regionalliga spielen, da bin ich überzeugt", sagt Bierofka. In der Bayernliga hat er zudem die Chance, sich mit Toren Selbstvertrauen zu holen, acht Treffer erzielte er bislang, vor zwei Wochen erst einen Doppelpack zum 2:1-Sieg in der wichtigen Abstiegskampf-Partie in Traunstein.

Er träumt von der Bundesliga, der Champions League. Alles beginne doch mit einem Traum, sagt Awata. Einen Traum zu verwirklichen ist ein weiter Weg. Den längsten Teil hat er womöglich schon geschafft.

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