Triathlon:Richtschnur ins Leben

Bayern Sport

Kommt auch mit Zehenbruch ins Ziel: Jeffrey Norris.

(Foto: Norbert Wilhelmi)

Seit einer Schlägerei ist Jeffrey Norris blind - trotzdem wurde er Triathlet und tritt am Sonntag zum dritten Mal in Roth an.

Von Anna Dreher

Er spürt jetzt wieder dieses Kribbeln im ganzen Körper. Das passiert Jeffrey Norris immer, bevor es los geht. Er findet das nicht unangenehm, es ist eher ein aufregendes Kribbeln, eines, das er mag. Weil Jeffrey Norris dann ganz besonders deutlich spürt, dass er lebt. Das Kribbeln wird sich steigern, bis Norris am Sonntagmorgen in Roth das Startsignal zum Triathlon hört. Das Kribbeln ist dann immer noch nicht weg, aber was vor und nach den 3,8 Kilometern Schwimmen, 180 Kilometern auf dem Rad und 42 Kilometern Laufen überwiegt, ist Dankbarkeit. Jeffrey Norris, 56, kann seit 30 Jahren nicht mehr sehen und nimmt trotzdem schon zum dritten Mal am Triathlon in Roth teil. Als einer von vier blinden Startern.

Wenn du willst, nehme ich dich mit - für Norris hat dieser Satz alles in seinem Leben verändert

Inmitten der Euphorie, die er wie jeder Ausdauersportler im Ziel spüren wird, erinnert sich Norris auch immer an diesen einen Moment vor 24 Jahren, der sein Leben veränderte. Der Moment, als ein Mann in der Reha, in der auch Norris sich nach seiner Erblindung ans Leben herantastete, seine Hand auf Norris Schulter legte und einfach nur sagte: "Wenn du willst, nehme ich dich mit." Ein simpler Satz, ein schlichtes Angebot. Für Jeffrey Norris hat er alles verändert.

Mit 16 Jahren brach er den Kontakt zu seiner Familie ab. "Ich bin in Kreise geraten, wo viele andere wie ich verloren waren", sagt der gebürtige US-Amerikaner, der als Zehnjähriger mit seiner Mutter in ihre Heimatstadt Nürnberg zog. "Drogen, Schlägereien - das war alles Frustbewältigung aus Wut auf das Leben und auch auf mich selbst." Körperlich und seelisch sei er einfach zerrissen gewesen in der Zeit.

Mit 18 stürzte Norris vom Motorrad. Sein linkes Auge war durch eine unbemerkte Krankheit bereits geschwächt und implodierte bei dem Unfall. Acht Jahre später provozierte er nach einem mehrtägigen Drogentrip eine Schlägerei. Norris wachte drei Tage später mit zertrümmerten Gesichtsknochen in einem Krankenhaus auf. Er überlebte, aber die Verletzungen an seinem rechten Auge waren so schwer, dass Norris erblindete.

"Viele meinen, das sei tragisch. Für mich war es eigentlich ein Glücksfall. Mein Leben davor war düster und leer. Seit ich blind bin, ist es farbenfroh", sagt der gelernte Masseur. Die Farbe aber kam erst in dem Moment in sein Leben, als ihm der Mann die Hand auf seine Schulter legte. Sieben Jahre nach seiner Erblindung war Norris in einer Reha. Er musste Altes und Neues verarbeiten, musste seine Sinne und sich neu kennenlernen. Er wollte sich spüren, wahrnehmen, bewegen, also ging er zu einer Wandergruppe. Doch die weigerte sich, einen Blinden mitzunehmen. "Als ich ging, kam dieser Mann, der das Gespräch mitbekommen hatte", sagt Norris. Jeden Tag vor dem Frühstück liefen sie zusammen. Erst nicht schnell und auch nicht weit, aber Norris spürte sich wieder. Vier Wochen darauf nahmen sie gemeinsam an einem Stadtlauf teil. "Das war gigantisch, dieses Erlebnis hat mir so viel gegeben", sagt der 56-Jährige.

Wenig später trat er zu seinem ersten Marathon an. Nach 28 Kilometern war Schluss, aber eigentlich ging es da erst los. "Mir haben sich beim Sport so viele Nischen meiner Seele geöffnet, ohne die ich nicht zu mir gefunden hätte", sagt Norris. "Einiges, was ich an mir entdeckt habe, gefiel mir nicht. Aber ich habe zurück ins Leben gefunden." Der Sport habe ihm, der sich als Blinder unter Menschen immer unwohl gefühlt hatte, wieder Selbstvertrauen gegeben. Inzwischen hat er an dutzenden Marathons, Triathlons und Ultrarennen über mehrere hundert Kilometer teilgenommen. 2012 hatte er sich kurz vor der Challenge einen Zeh gebrochen und konnte nach dem Radfahren nur noch gehen - sieben Stunden dauerte es, bis er im Ziel war. Aber er kam an.

Vor und im Wettkampf hilft ein Team aus Begleitern Norris. Weil er das Training mit seinen Partnern abstimmen muss, hat er für den Sport keinen festen Zeitplan. Trotzdem trainiert er in manchen Wochen jeden Tag. Beim Schwimmen hat Norris eine Technik entwickelt, die ihm ein eigenständiges Training im Hallenbad ermöglicht. Eine Art Kraultechnik, bei der er immer wieder die Plastikbegrenzung seiner Bahn oder den Beckenrand spürt. Nur im Freiwasser ist er auf Hilfe angewiesen, hier begleitet ihn in Roth - wie auch beim Laufen mit Schnur - ein Freund. Sie teilen sich so auf, ihm im Rennen die Richtungen vorzugeben und auf Hindernisse hinzuweisen. Auf dem Tandem wird er diesen Sonntag in Roth mit dem mehrfachen Ironman-Sieger Faris al-Sultan fahren, Norris hat ihn einfach angemailt. Seit seiner Erblindung hat er keine Berührungsängste mehr. Er ist offener geworden.

"Natürlich gibt es auch Momente, in denen ich hadere", sagt Jeffrey Norris. "Aber als Sehender hätte ich das sicher auch getan - nur eben wahrscheinlich über andere Dinge."

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