Trauerflor-Verbot des IOC:Kein Platz für Menschlichkeit

Norway's Bjoergen and Weng cry as they celebrate after women's cross-country skiathlon event at 2014 Sochi Winter Olympics

Sieg und Trauer, gleichzeitig: Marit Bjørgen und Heidi Weng bei der Blumenzeremonie am Samstag.

(Foto: REUTERS)

Die Rüge gegen die Langläuferinnen wegen des Tragens eines Trauerflors entsetzt Norwegen. Wegen der Bewerbung Oslos für die Winterspiele 2022 hat das IOC nun ein Problem. Im Sprint der Frauen droht neuer Ärger.

Von Thomas Hummel

Am Tag der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele kam die Nachricht in das Quartier der Norweger, dass der 25-jährige Bruder der Langläuferin Astrid Jacobsen unerwartet gestorben sei. Ihr Bruder war auch ihr Trainingspartner und in der Mannschaft bekannt. Die Teamleiter riefen anschließend die Läuferinnen zusammen, der ganze Raum soll hemmungslos geheult haben.

Die Weltcup-Zweite Astrid Jacobsen war zwar nicht für den Skiathlon am Samstag nominiert worden, dennoch erwog der Rest des Teams gar einen Startverzicht, so groß sei der Schock gewesen. Sie entschlossen sich dann doch zu laufen, Marit Bjørgen holte Gold, Heidi Weng Bronze, Therese Johaug wurde Vierte. Sie alle trugen als Zeichen ihrer Anteilnahme eine schwarze Binde am Oberarm. Die Norwegerinnen weinten noch bei der Blumenzeremonie nach dem Rennen und Siegerin Marit Bjørgen konnte auch bei der Pressekonferenz ihre Tränen nicht stoppen.

Das ist die Dimension, das sind die menschlichen Gefühle rund um das norwegische Langlaufteam.

Am Montag hat das Internationale Olympische Komitee den Norwegern eine Rüge verpasst. Unter Verweis auf Regel 50.3 der olympischen Charta. Darin heißt es: "Jede Demonstration oder politische, religiöse oder rassische Propaganda ist an den olympischen Stätten, Austragungsorten oder in anderen olympischen Bereichen untersagt." Als der offensichtliche Zweifel aufkam, ob ein Trauerflor politische, religiöse oder rassische Propaganda sein könnte, erklärte IOC-Sprecherin Emmanuelle Moreau: "Wir glauben, dass die Wettkampfstätten, in denen die Atmosphäre festlich ist, nicht der richtige Ort für Trauer sind."

Weitere Fälle

Es ist nicht der erste solche Fall rund um Sotschi. Das IOC untersagte einigen Ski-Freestylern, mit Aufklebern auf ihren Helmen an den Tod ihrer vor zwei Jahren verunglückten Kollegin Sarah Burke aus Kanada zu erinnern. Valentina Wallner, Torhüterin der schwedischen Eishockey-Nationalmannschaft, wollte mit dem Konterfei ihres verstorbenen Bekannten Stefan Liv auf dem Helm auflaufen. Wallner musste das Bild von Liv, Schwedens ehemaligem Nationaltorhüter, der im September 2011 beim Absturz des Flugzeugs mit dem Team von Lokomotive Jaroslawl an Bord starb, jedoch überkleben.

Wer gegen die Regeln und Anweisungen des IOC verstößt, dem droht der Entzug der Akkreditierung, also der Ausschluss von Olympia. Insofern haben auch die Norwegerinnen angekündigt, den Trauerflor nicht mehr zu tragen.

Die Welt fragt sich nun, was das soll? Hat sich die olympische Bewegung so weit vom Leben verabschiedet, dass nicht einmal mehr Totengedenken gestattet ist? Wie sehr darf Olympia entmenschlicht werden? Soll damit etwa jede Ablenkung für die exakt sitzenden Sponsorenlogos vermieden werden? Sport soll Jugend, Freude, Vitalität ausstrahlen - passt da menschliches Leid nicht rein? Fragen, die noch nicht beantwortet sind.

Allerdings Fragen, die so leicht nicht verschwinden werden. Zumindest nicht in Norwegen, wo die Aufregung beträchtlich ist. Was zum Problem für das IOC werden könnte, denn die norwegische Bevölkerung erwies sich zuletzt als letzte Verbündete innerhalb der westlichen Gesellschaften mit Wintersport-Tradition.

In München, Graubünden und Wien verloren die Olympiabefürworter nicht zuletzt wegen des schauerlichen Images des IOC Volksabstimmungen bei der Frage, ob man sich für das Ringe-Spektakel bewerben soll. Stockholm zog sich aus Kostengründen zurück und kam einem Aufschrei der Menschen zuvor. Nur in Oslo stimmten im vergangenen September 53,5 Prozent dafür.

Jacobsen im Sprint am Start

Es wäre angesichts der weiteren Bewerber wie Peking, Almaty (Kasachstan) oder Lemberg (Ukraine) ein fast überlebenswichtiges Zeichen für die olympische Bewegung, wenn 2022 die Winterspiele an den Ursprung des Sports nach Norwegen zurückkehren würde. Umso verheerender wäre es, wenn sich das IOC in Norwegen so unmöglich machen würde, dass auch noch die Oslo-Bewerbung ins Wanken geraten würde.

Wie reagiert Thomas Bach, der neue deutsche IOC-Chef? Inge Andersen, Generalsekretär des norwegischen olympischen Komitees, erklärte, Bach verstehe die Situation, er sei bereit zuzuhören und etwas zu ändern. Der Diplomat Bach ist ein Meister der Moderation - doch noch scheinen die Norweger nicht zufrieden zu sein. "Wir sind sicher, dass Menschlichkeit wichtiger ist als der Sport", versicherte Andersen.

Astrid Jacobsen trat an diesem Dienstag beim Sprint an, sie war als frühere Weltmeisterin eine Favoritin auf eine Medaille. Dabei drohte neuer Ärger. Denn alle Medaillengewinner müssen nach einer Regel des IOC anschließend zur Pressekonferenz. Jacobsen hatte sich seit Freitag nicht öffentlich geäußert. Norwegens Frauen-Nationaltrainer Egil Kristiansen kündigte an, seine Athletin schützen zu wollen.

Jocobsen wurde im Finale Vierte.

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