Tour der France:Zum Siegen verdammt

Götterdämmerung in Etappen: Tiefer als von Dopingmitteln war der Radrennsport schon immer von seiner eigenen Schizophrenie vergiftet

Andreas Zielcke

"Das ist das Dreckigste'', empörte sich der Dopingexperte Werner Franke letztes Jahr, als die Machenschaften des spanischen Arztes Eufemiano Fuentes aufflogen, "das ist das Dreckigste, was ich bisher erlebt habe.'' Die dänische Zeitung B.T. sah nach dem Geständnis Jörg Jaksches die Radwelt in einem "Fass voller Ekel'' versinken. Für den österreichischen Kurier löste das Geständnis ein "Erdbeben'' aus. In was für einer gemütlichen Welt fern aller tagtäglichen Rauheiten leben Kommentatoren, die ihren Hinterwald erbeben sehen und sich vor Ekel winden, weil Radfahrer dopen? Es muss wohl jenes Krähwinkel sein, das Jean Paul beschrieb. Wenn diese Machenschaften schon das Dreckigste wären, was man zur Zeit in diesen Breitengraden erlebt, wäre es um unser Heil trotz allem nicht schlecht bestellt.

Tour der France: Jan Ullrich: einer der Protagonisten zur Hochzeit des Radsports.

Jan Ullrich: einer der Protagonisten zur Hochzeit des Radsports.

(Foto: Foto: dpa)

Natürlich gibt die Dopingpraxis, die immer detailreicher zu Tage tritt, ein Bild des Radsports ab, das keine "lupenreine'' Sportlichkeit offenbart: unfair, kriminell, heuchlerisch und betrügerisch, gesundheitsschädlich und verantwortungslos. All diese Übel charakterisieren den epidemischen Gebrauch illegaler leistungssteigernder Substanzen unter den Radsportlern. So verblendet kann der leidenschaftlichste Aficionado des Radsports nicht mehr sein, dass er die Verseuchung abstreiten könnte.

Aber so realitätsfern muss auch kein Kritiker mehr sein, dass er das Maß der Empörung und Verachtung nicht ins Verhältnis setzen könnte zu den sonstigen Schweinereien dieser Welt. Mit der Eskalation der Abscheurhetorik sollte es nun mal gut sein. Nur in Krähwinkel bauscht man auf, was schon bei nüchterner Betrachtung unschön genug ist.

Denn das Schlimme und für seine Akteure wie für seine Anhänger so Quälende ist ja, dass der professionelle Radrennsport auf absehbare Zeit in einem düsteren Zwischenreich fortbestehen muss, in einer unbehaglichen Sphäre zwischen Ruhm und Schande, Faszination und Abstoßung. Ein wahres Unglück, eine großartige Sportart ist zur andauernden Dämmerung verurteilt. Sie wird -trotz radikaler Forderungen, den Spitzensport mangels Aussicht auf Heilung abzuschaffen - nicht untergehen, sie wird aber auch nicht mehr wirklich triumphieren.

Zum Siegen verdammt

Doch nur der Triumph ist ihre Essenz, der Sieg über die Schmerzen, über den nur allzu berechtigten eigenen physischen Widerstand und über die willenstärksten und die listigsten Rivalen. Es ist, als würde das innere Leitmotiv der Tour de France, die "Tour des Leidens'', nun für den gesamten Radsport gelten: nicht mehr in Ehre leben und auch nicht in Unehre sterben zu können. Und die Anhänger, die den Helden zu ihrem Ruhm verhelfen, müssen gerechterweise auch für deren Schande mithaften. Denn als Anhänger und Fans haben auch sie - je leidenschaftlicher und bedingungsloser, desto mehr - zu dieser Schande beigetragen, ob sie es wollten oder nicht.

Sie sind die betrogenen Mitbetrüger. Sie haben das Spiel mit dem extremsten Körpereinsatz, den es gibt, mit all seinen hässlichen Konsequenzen gewollt, und diese Konsequenzen rauben ihnen nun alle Illusionen - Illusionen, die sie bei näherem Hinsehen nie haben konnten. Von Anfang an knüpfte der Radsport ein symbiotisches Verhältnis zwischen dem wahnwitzigen Wettkampf um Hochleistungsexzesse und seinen Zuschauern, die ihre Helden wegen dieser Exzesse feierten. Von Anfang an durchschaute und verdrängte man zugleich.

Als im Jahre 1896 der englische Rennfahrer Arthur Linton tot vom Rad fiel, weil sein Körper die unmenschliche Belastung nicht mehr aushielt, war schon alles da: Ein Rennen von Paris nach Bordeaux, das mit seiner Strecke von mehr als 600 Kilometern (am Stück!), zumal auf den damaligen hundsmiserablen Straßen, nichts als die Ausgeburt einer gnadenlosen, surrealen Übertrumpfungsphantasie war; ein skrupelloser Manager, für den Linton nur ein Sklave war, den er großmächtig zum Helden küren wollte; krude Aufputschmittel zur Hand, ohne dass man auch nur eine Ahnung von verträglicher Dosierung gehabt hätte; und Medien, die ihr Publikum mit dem neuen Heroismus süchtig machten und es mit Pathos und abenteuerlicher Erregung als ungläubig-gläubige Mitverschwörer in das Drama um Leib und Leben einbezogen.

Es ist kein Zufall, dass es ein paar Jahre später eine Zeitung war, die für ihre Leser die Tour de France erfand. Die allfällige Auflagensteigerung ist das eine, das andere aber ist die Schaffung eines dramatischen Voyeurismus der Eingeweihten, einer Intensität der Teilnahme an dem Heldendrama, das alle sonstigen Maßstäbe der Berichterstattung sprengt: "Wenn ein Journalist nicht auf fünf Seiten beschreiben kann, wie ein Fahrer auf einem schneebedeckten Pyrenäengipfel mit seinen Zähnen einen defekten Reifen von den Felgen reißt, weil seine Finger eiskalt und gefroren sind'', verfügte Henri Desgrange, der Chefredakteur der Zeitung L'Auto, der die Tour begründete und organisierte, "dann soll er zu Hause bleiben und seinen phantasievolleren Kollegen die Bleistifte spitzen.'' Die Leser sollten mittreten, mitstürzen, mitleiden, mitsiegen mit allem, was dazu gehört. Die ganze Rundfahrt wurde damals in nur sechs Etappen gefahren - mit denselben mörderischen Pässen wie heute, aber ohne Gangschaltung und auf Schotterstraßen.

Zum Sieg verdammt

Deshalb flossen in die Beschreibung der Brutalität, Härte und Größe des Kampfes all die Tricks, Gemeinheiten und Betrügereien ein, auf die die Fahrer, die sich zum Ziel schunden, verfielen: Man fuhr Abkürzungen, man betäubte seine Schwächen mit Alkohol, Kokain, Chloroform oder Strychnin, man griff seinen Gegnern buchstäblich in die Speichen. So konnte sich das Publikum am Zauber des unvergleichlich eleganten und ästhetischen Bewegungsflusses des Rennradfahrens berauschen und zugleich an der amoralischen Entfesselung proletarisch-maskulinen Heldentums, wie es sich die kollektive Phantasie nicht bewundernswerter und schmutziger ausmalen konnte - rauher, unnachgiebiger Krafteinsatz, unendliche Leidensfähigkeit und Bereitschaft zur Selbstzerstörung, radikaler Siegeswille. Die Verlierer verschwanden erbarmungslos in der Versenkung (Raymond Poulidor, der "ewige Zweite'', ist die berühmte Ausnahme), den Sieger hob man in den Himmel und sah ihm fast alles nach.

Zum Siegen verdammt

Dabei müsste doch, wie es ein Beobachter einmal formuliert hat, eigentlich das Umgekehrte gelten: "Wenn es schon so entsetzlich schwer ist, die Tour zu gewinnen, wie schwer muss es erst sein, sie zu verlieren?'' Doch diese Gefühlslogik ist nicht die der Tour und nicht die ihrer meisten Zuschauer, bis heute. Ihre Moral ist eine Siegermoral, keine Verlierermoral. Nicht, weil hier Nietzsche zum Zuge käme, sondern vor allem, weil alle Schonungslosigkeit, alles Leiden, aber auch alle grausamen und hässlichen Mittel jede Sportmoral so sehr strapazieren, dass sie nur durch den Erfolg zu kaschieren und zu verblenden sind. Das verlangt die kompensatorische Psyche der Zuschauer, die sich mit ihren Helden trotz allen Halbwissens um krumme Dinger identifizieren.

Trotzdem ist nichts ungerechter als die moralverklärende Wirkung des Sieges. Doch hier, wo die Fahrer auf die Kumpanei ihres Publikums bauen dürfen, ist dies nur folgerichtig. Das ist keine Doppelmoral, das ist Schizophrenie. Man will von seinen Helden beides, Fairness und Rücksichtslosigkeit. Ja, man setzt auch auf die Rücksichtslosigkeit, weil nur ein absoluter Durchsetzungswille auch gegen den eigenen Körper der Unmenschlichkeit entspricht, die man einem Tour-de-France-Fahrer auferlegt. Man hört in Frankreich manchmal die Formel von der ,,aventure de l'inhumanité'', wenn über die Tour räsonniert wird. Ist Unmenschlichkeit die Prämisse, gilt Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst und gegen die Rivalen fast schon als Tugend.

Schon darum ist Doping lange nicht ernsthaft verpönt gewesen. In den ersten sechs Jahrzehnten der Tour war es nicht verboten. Auch danach, seit den sechziger Jahren, war sie in Frankreich untersagt, das Verbot wurde aber nicht exekutiert. Von allen großen Siegern, Eddy Merckx, Jacques Anquetil, Bernard Thévenet, war die Einnahme von Aufputschmitteln bekannt, sie machten - wie auch Didi Thurau oder Rudi Altig - keinen Hehl daraus. Das Publikum hat sein Wissen, wie immer, beiseite geschoben.

Nun sitzt inzwischen der moralische Stachel ein wenig tiefer - um so tiefer reicht auch die heutige Schizophrenie. Seit den achtziger Jahren wird die Einnahme von Aufputschmitteln, die ja nur den subjektiven Elan, nicht aber Muskelaufbau und physische Leistungsfähigkeit verändern, durch Dopingmittel ersetzt, die genau diese physiologischen Veränderungen bewirken. Aus Mitteln, die im besten Fall den Willen stärkten, sind Mittel geworden, die den Körper stärken. Sie werden wissenschaftlich systematisch erforscht und verfeinert, sie machen das Doping aber eben wegen der gestiegenen Raffinesse immer mehr zu einer Geheimpraxis, deren Kontrolle erschwert und deren Auswirkungen auf die Fahrer von Dritten nicht mehr realistisch eingeschätzt werden kann.

Die Tour, schon immer so grandios wie schmutzig, wird auf neue Weise vergiftet - aber, wie gesagt, nicht umgebracht. Roland Barthes hat den Tourfahrern, die dopen, vorgeworfen, dass sie den göttlichen Funken stehlen, den allein Gott selbst über den Helden der Tour zum Strahlen bringen dürfe. In der Tat, die Doper wollen mit ihrer neuen dunkeln Geheimwissenschaft Gott spielen. Dass sie stattdessen in der Götterdämmerung gelandet sind, ist die traurige Ironie der Stunde.

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