Tour de France:Zurück im Königreich

Der Slowake Peter Sagan gewinnt die zweite Etappe der Tour de France und findet sich ein Jahr nach seinem umstrittenen Ausschluss in einer bekannten Rolle wieder: als einer der größten Hingucker des Pelotons.

Von Johannes Knuth, La-Roche-Sur-Yon

Man hatte diese aufwühlenden Szenen schon einmal gesehen, irgendwo. Wie die Radprofis sich am Sonntag, bei der zweiten Etappenankunft der Tour de France, in die letzte scharfe Kurve warfen. Wie der Südafrikaner Daryl Impey stürzte, und die Fahrer um ihn herum zu Boden fielen wie bunte Dominosteine. Wie nur ein paar Sieganwärter an der Spitze übrig blieben, die sich auf den letzten zwei Kilometern Richtung Ziel schoben. Und wie Peter Sagan plötzlich nach rechts ausscherte und die Nachhut in Richtung Bande drängte. Spätestens da war klar, woran all das erinnerte: an das wilde Tour-Finish vor einem Jahr in Vittel, als Sagan mit Mark Cavendish aneinandergeraten und der Brite auf den Asphalt geknallt war.

Am Sonntag hätte es fast John Degenkolb erwischt, den deutschen Profi. "Am Ende konnte ich nur bremsen oder stürzen", sagte Degenkolb in der ARD, voller Wut auf Sagan: "Ich habe es vorgezogen, bei 60 km/h nicht zu stürzen." Der Protest seines Teams wurde abgeschmettert. Der Hauptangeklagte, der die Etappe übrigens gewonnen hatte, entgegnete: "Das war nicht mein Fehler, ich weiß nicht, was er will." Dann setzte Sagan einen klassischen Sagan-Spruch ab, unterlegt von einem kräftigen sarkastischen Bass: "Sollen sie mich wieder rauswerfen, von mir aus."

Der 28-Jährige ahnte freilich, dass sie ihn nicht rauswerfen würden. Er war ein hartes, aber nicht zwingend strafbares Manöver gefahren, ähnlich wie in Vittel. Damals hatte der Rad-Weltverband UCI Sagan quasi Landfriedensbruch unterstellt und von der Tour davongejagt, erst im Dezember 2017 sprachen sie ihn vom Fehlversagen frei. Diese Linie konnten die Regelhüter jetzt schlecht aufgeben. "Wer vorne fährt, kann die Linie wählen. Das ist Radsport", fand der deutsche Sprinter André Greipel, ein erfahrener Sachverständiger, der Vierter geworden war (Marcel Kittel hatte kurz vor dem Ziel einen Defekt erlitten). Es war jedenfalls interessant, wie das am Ende zusammenfiel: Sagans erster Tagessieg bei dieser Tour, der fast zur Hommage an seinen bis dato letzten Auftritt in Frankreich geriet. Das interessiere ihn aber alles nicht, behauptete Sagan, Vittel sei abgehakt: "Wenn du mit dir im Reinen bist, gibt es keine Probleme."

Sagan ist also zurück in seiner Komfortzone, oder wie es die L'Équipe formulierte: zurück in seinem Königreich. Der Erfolg vom Sonntag war sein insgesamt neunter bei der Tour, er übernahm das grüne Punktetrikot, das er zum sechsten Mal gewinnen könnte. Das gelbe Leibchen des Gesamtführenden gab es als Dreingabe, wobei Sagan schon ahnte, dass er es am Tag darauf im Teamzeitfahren mit seiner Equipe Bora-hansgrohe wieder verlieren würde (an den Belgier Greg van Avermaet von BMC). Und sonst? Das Trikot des Weltmeisters trägt Sagan im dritten Jahr nacheinander, alles wie immer also, wobei: Langweilig wird es mit ihm ja nie. Zum Beispiel, wenn er bei der Fahrerpräsentation auf dem Hinterrad auf die Bühne fährt, bejubelt wie ein Popstar. Der Slowake erklimmt so langsam eine Stufe, die nur wenige Sportprominente erreichen: Er ist oft ein Spektakel, indem er einfach da ist.

Sagan, der Radsport-Hipster, und seine ambitionierte Equipe aus Oberbayern haben sich längst gefunden. Sie genießen im Team den Rummel, den Sagan über Jahre auf sich gezogen hat, sie mögen aber auch die ruhige Art, mit der er das Binnenklima regelt. Sagan sorge sich um alle Helfer, lasse sie am Preisgeld partizipieren, er wolle vor allem Spaß haben, auf dem Rad und in der Gruppe, sagt Ralph Denk. Der Teamchef hatte früh verstanden, dass ein Gefühlsmensch wie Sagan vor allem eine Wohlfühloase suchte, als der Slowake vor zwei Jahren nach einem neuen Arbeitgeber fahndete. Als Denk sein Vorstellungsgespräch bei Sagan hatte, habe man über vieles geredet, erinnert er sich, nur nicht über Sport. Und als Sagan kam, erhielt er ein paar Bürgerrechte mehr als die Kollegen, Mountainbike fahren zum Spaß etwa, was andere Teamchefs nie tolerieren würden. Aber wenn Sagan keine Lust verspüre, sagt Denk, lasse er einen das halt spüren.

Wenn er Lust hat, spürt man das freilich auch. Im Frühjahr erst wieder, bei der Kopfsteinpflasterquälerei von Paris nach Roubaix, als er dem Feld mit einer unscheinbaren Attacke entwischte und das größte Eintagesrennen seines Sports gewann. Manchmal erinnert er an den einstigen Skirennfahrer Bode Miller, der lieber erfolglos eine halsbrecherische Linie ausprobierte, anstatt als Zehnter ins Ziel zu trudeln. "Peter ist Erfolg sehr wichtig", sagt Denk, "aber die Art ist mindestens genauso wichtig." Damit pflege er freilich bewusst seine Marke, neben Videos, in denen er das Musical-Geschmachte von John Travolta nachspielt. "So eine Marke", sagt Denk, "kreierst du nur mit Außergewöhnlichem."

Selbst der Vorfall in Vittel hat zu einem Novum geführt: Die UCI leistet sich in diesem Jahr erstmals Videoschiedsrichter, die alle verfügbaren Bilder eines Rennens sichten, um umstrittene Bannsprüche wie den von Sagan künftig zu vermeiden. Den ersten Einsatz bei der Tour hatten die Referees übrigens am Sonntag, nach Degenkolbs Protest.

Gut möglich, dass Denk seinen Ausnahmekönner bald länger an sich binden kann. Seine beiden Hauptsponsoren haben in diesem Jahr ihre Verträge verlängert, bis 2021 und 2020, und kein ein anderer Radprofi verschafft ihnen so viel Aufmerksamkeit. "Er kann fast alles", sagte Marc Madiot, Sportdirektor der französischen Equipe FDJ in La-Roche; Sprints, schwere Klassikeretappen, Abfahrten. "Er fährt in seiner eigenen Kategorie", fand Madiot. Nicht nur auf dem Rad.

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