Tour de France:Warum Sagans Tour-Ausschluss zweifelhaft ist

Tour de France: Eine Szene, die viele Fragen aufwirft: Mark Cavendish ist nach einem Kontakt mit Peter Sagan (l.) gestürzt.

Eine Szene, die viele Fragen aufwirft: Mark Cavendish ist nach einem Kontakt mit Peter Sagan (l.) gestürzt.

(Foto: AP)
  • Mark Cavendish stürzt auf der vierten Etappe schwer nach einem Kontakt mit Peter Sagan.
  • Der Slowake wird hinterher disqualifiziert, weil er Kollegen "ernsthaft gefährdet" haben soll.
  • Doch der Fall ist komplizierter, als er zunächst aussieht.

Von Christopher Gerards

Die Szene, in der einer der besten Sprinter der Radsport-Geschichte schwer stürzte und an deren Ende der Weltmeister disqualifiziert wurde, sah zunächst ganz eindeutig aus. Man sah: den Slowaken Peter Sagan und den Briten Mark Cavendish im Massensprint der 4. Etappe der Tour de France. Wuchtig traten sie in die Pedale, Cavendish fletschte mit den Zähnen, in fünfter, sechster Position des Feldes fuhren sie. Doch plötzlich: Stürzte Cavendish, er brach sich die Schulter. Und der Grund schien eindeutig: Sagan hatte ihn mit dem Ellbogen gestoßen und zu Fall gebracht.

Übeltäter! Radsport-Rüpel! Wildwest-Sprint! Ekliger Ellbogen-Rammstoß! All diese Urteile ergingen noch am Abend über Sagan. "Da fährt ein Typ im Weltmeister-Trikot, der meint, er könne sich alles erlauben", schimpfte etwa der Rostocker Sprinter André Greipel. Die Jury verhängte zunächst eine Strafzeit von 30 Sekunden und versetzte ihn auf Platz 115 zurück. Eine Stunde später dann entschied sie: Sagan, 27, vom deutschen Team Bora-hansgrohe wird disqualifiziert. Und auch ein Einspruch des Teams wurde am Mittwoch abgewiesen. Der Weltmeister, der Sieger der dritten Tour-Etappe, der fünffache Sieger des Punktetrikots für den besten Sprinter, der wohl marketingtauglichste Fahrer der Tour, darf in diesem Jahr nicht mehr mitfahren. Weil er "auf den letzten Metern des Sprints Kollegen ernsthaft gefährdet" hat, so teilte es Jury-Präsident Philippe Marien mit.

Die Frage ist: Hatte Sagan das wirklich? Und was genau hatte er eigentlich getan? Nicht nur André Greipel revidierte später sein Urteil, "zu hart" empfand er abends nicht mehr den Zweikampf zwischen Sagan und Cavendish - sondern die Entscheidung der Jury. Und wer sich die Bilder noch einmal anschaut, stellt fest: Die Antwort darauf, wer eigentlich schuld hat an diesem Unfall, ist nicht so einfach, wie es zunächst aussieht. Drei Sichtweisen - und drei Einordnungen.

  • These 1: Sagan hat Cavendish mit dem Ellbogen gerempelt.

Dieser Ansatz lag nach der ersten Sicht der TV-Bilder nahe. Allerdings täuschte hier womöglich die Geschwindigkeit. Verlangsamte Bilder legen hingegen nahe: Sagan hat Cavendish mit dem Ellbogen nicht mal berührt. Es scheint eher so, als seien beide Fahrer sich zu nahe gekommen, als hätten sie sich mit ihren Körpern berührt. Und Sagan fuhr offenbar erst dann den Arm aus, als Cavendish neben ihm stürzte. Es schien, als wolle Sagan lediglich das Gleichgewicht halten, schließlich sprintete er in höchstem Tempo. Doch das führt zur zweiten Sichtweise und zur Frage: Warum sind die beiden einander überhaupt so nahe gekommen?

  • These 2: Sagan hat Cavendish in die Bande gedrängt.

Für diese Annahme spricht, dass Sagan und Cavendish weit am rechten Rand der Strecke sprinten, Sagan weiter innen, Cavendish direkt neben den Zuschauern und der Bande. Und gut 200 Meter vor dem Ziel wirkt es, als wechsle Sagan die Spur, er scheint in Cavendishs Richtung zu fahren. "Ich habe Mark nicht gesehen, es tut mir leid", meinte Sagan später. Dafür spricht, dass Sagan tatsächlich ein kleines Stück vor Cavendish fuhr und es nicht ausgeschlossen ist, dass er ihn nicht sah. Denn hinzu kommt: Cavendish fuhr seinerseits eine riskante Linie.

  • These 3: Arnaud Démare, der Sieger der Etappe, hat entscheidenden Anteil am Unfall.

Der Franzose gewann am Dienstag seine erste Tour-Etappe überhaupt. Doch über sein Verhalten im Zielsprint wurde zunächst kaum diskutiert, erst Fachmagazine wie Radsport-News wiesen darauf hin. Gleich mehrfach wechselte er nämlich seine Fahrlinie, unerlaubterweise. An Position sechs liegend, zog er zunächst von der linken Seite nach rechts, überholte so Sagan, ein erlaubtes Manöver. Doch dann zog er plötzlich von rechts in die Mitte. Ob das Sagan dazu veranlasste, seinerseits ein Stück nach rechts zu lenken, lässt sich nicht vollends klären. Fest steht aber: Démare behinderte den Franzosen Nacer Bouhanni, der durch schnelles Bremsen gerade noch einen Unfall verhindern konnte. Eigentlich wäre also auch eine Strafe für Démare angemessen gewesen.

Ist es also so, wie das Fachportal Radsport News es sieht? "Es riecht aber nach einem normalen Sprintunfall, für den man niemanden verantwortlich machen sollte", heißt es in einem Kommentar. Vermutlich ist diese These nicht falsch - so sieht es auch der frühere Toursieger Greg LeMond. Man kann aber zusätzlich fragen, was diesen Unfall provoziert hat. Werden die Sprintankünfte womöglich chaotischer, weil der Druck schon zu Tourbeginn größer ist? Während früher die ersten Wochen vor allem aus Sprintankünften bestanden, sind inzwischen auch die Klassement-Fahrer früh gefordert - wie etwa bei der dritten Etappe am Montag, die mit einer Bergankunft der dritten Kategorie endete (und mit dem Sieg von Sagan). Die Chancen auf einen Sprintersieg sinken dadurch - was die Nervosität im Feld bei Flachetappen womöglich erhöht. Zudem fahren immer mehr Teams mit eigenen Sprinterzügen, also mit einer Reihe von Fahrern, die sich gegenseitig Windschatten geben. Weil aber die wenigsten davon reüssieren, steigt die Unordnung.

Er habe nichts falsch gemacht, sagte Peter Sagan am Mittwoch zu seinem Tour-Ausschluss. Ein "verrückter Sprint" sei es gewesen. Und ein Unfall wie dieser könne immer wieder passieren. Vermutlich liegt er da nicht falsch.

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