Tour de France:Vom Loseverkäufer zum Kandidaten für das Gelbe Trikot

Le Tour de France 2017 - Stage Fifteen

Auf dem Weg nach oben: Vor dem Kolumbianer Rigoberto Urán (rechts) fürchtet sich inzwischen sogar Titelverteidiger Christopher Froome.

(Foto: Chris Graythen/Getty Images)
  • Eigentlich war Nairo Quintana die große Hoffnung Südamerikas bei dieser Tour de France. Doch der Körper des Kolumbianers streikt.
  • Stattdessen ist Rigoberto Urán nur 29 Sekunden von der Gesamtführung und damit vom Gelben Trikot entfernt.
  • In den Alpen könnte er sich den nötigen Vorsprung für das Zeitfahren am Samstag erarbeiten.

Von Johannes Knuth, Romans-sur-Isère

Wer Kolumbiens Fahrer bei der Tour de France finden will, folgt dem Lärm. Ihre Fans tröten, klatschen, johlen, sobald sie einen der ihren erspähen, der sich vom Hotel zum Start schlängelt. In den ersten Tagen ist der Lärm meist dort, wo Nairo Quintana auftaucht. Die Anhänger entdecken den 27-Jährigen im dichtesten Gewühl der französischen Altstädte, sie klopfen ihm herzhaft auf die schmalen Schultern. Aber in den vergangenen Tagen haben sich die Laufwege der Fans doch ein wenig geändert.

Viele umlagern jetzt den schwarz- grünen Bus von Cannondale-Drapac, dem Team von Rigoberto Urán. Sie empfangen ihn mit Sprechchören, Rigo, Rigo, die Reporter brüllen in die Mikrofone, sie erwähnen jede seiner Regungen. Er hat kantige Gesichtszüge, trug die Haare mal lang wie Mick Jagger, aber mittlerweile hat er die Mähne getrimmt und sieht nicht mehr aus wie der Frontmann der Stones, nur noch alt. Er redet wenig. Und wenn Urán was sagt, flüchtet er ins Ungefähre: "Tranquilo, todos van bien." Es ist ein bisschen sein Leitmotto in diesen Tagen. Ganz ruhig, alles wird gut.

Ganz ruhig? Man kann es seinen Anhängern nicht verübeln, dass sie die Weisung beharrlich ignorieren. Urán trennten nach der 16. Etappe am Dienstag und vor den letzten Bergetappen am Mittwoch und Donnerstag weiterhin bloß lumpige 29 Sekunden von Christopher Froome, dem Führenden. Noch kein Kolumbianer war so lange dem Gelben Trikot so nahe, nicht mal Quintana, Dritter des Vorjahrs, der in diesem Jahr das schwere Double aus Giro- und Toursieg schaffen wollte. Aber beim Giro war der Niederländer Tom Dumoulin besser, und jetzt fährt Quintana so schlecht, dass er sogar etwas aus der Höhle seiner Schweigsamkeit herauskriecht. "Wir wollten es hinkriegen, aber wir haben es nicht geschafft. Mein Körper antwortet mir nicht mehr", gesteht er. Quintana muss sich ein Jahr gedulden, und es ist durchaus möglich, dass er dann einen Landsmann entthronen muss: Rigoberto Urán wäre der erste Tour-Sieger aus Südamerika.

Urán hat bereits 14 große Rundfahren hinter sich, er war zwei Mal Zweiter beim Giro (2013, 2014), aber bei der Tour kam er bislang nicht über Rang 23 hinaus. Vor eineinhalb Wochen gewann er dann die fiebrige Etappe durchs Jura-Gebirge; als der Australier Richie Porte stürzte, nahm Uráns Schaltung Schaden. Er gewann die Etappe trotzdem, mit einem der zwei Gänge, die er noch ansteuern konnte. In den Bergen hatte er nie einen herausragenden Tag, wie Fabio Aru oder Romain Bardet, die in der Gesamtwertung wenige Sekunden vor ihm liegen. Aber er war auch nie schwach. Er weilte stets im Schatten der Favoriten, wie ein Bodyguard, der da ist, sobald es brenzlig wird. Urán sei auch ohne starke Helfer "mehr als ein Geheimfavorit", sagte Froome, als die Tour am Montag pausierte, "er ist eine große Gefahr". Nämlich dann, wenn er sich in den Alpen, auf drei Bergen der höchsten Kategorie, ein Guthaben fürs Zeitfahren am Samstag erarbeitet.

Auf den zweiten Blick wirkt Uráns Blüte nicht ganz so überraschend. Der ungewöhnliche Kurs in diesem Jahr liegt ihm, er mag die kurzen, knackigen Rampen und die langen, kurvigen Abfahrten. "Ich habe keine Geheimnisse", sagte er am Ruhetag, er sei einfach "very tranquilo". Keine schlechte Idee bei dieser hektischen Tour, bei der keine Etappe der nächsten gleicht.

In Straßenklamotten fuhr er sein erstes Zeitfahren - und gewann.

Urán bleibt gelassen, und das ist womöglich auch der Tatsache geschuldet, dass er nicht nur auf dem Rennrad schon viel gesehen hat. "Manchmal", hat er in einem Interview vor einem Jahr gesagt, "habe ich das Gefühl, ich hätte schon zwei Leben gelebt."

Das erste Leben spielte in Urrao, einer Kleinstadt in den Anden. Urán wuchs in den 90er Jahren auf, Kolumbien rang mit den Drogenkartellen und den Guerillas. Sein Vater verkaufte Lotterielose, als Rigoberto 14 war, brachte er ihn zum Radsport. Monate später wurde er von den Guerillas erschossen. Rigoberto fuhr mit dem Rad in benachbarte Dörfer, um Lose zu verkaufen, er musste die Familie irgendwie durchbringen. Mit 15 machte er bei einem Zeitfahren mit, in Straßenklamotten, aber er gewann. Er hangelte sich über ein paar Regionalteams zu seinem ersten Profivertrag bei einem italienischen Team, 2006 war das. Uràn war erst 19.

Das zweite Leben ist das eines Radsport-Unternehmers. Urán fuhr für Teams aus Italien, Belgien, Großbritannien, Spanien und den USA. Er machte auch bei manch dubioser Equipe Halt, zwischen 2008 und 2010 war er bei Caisse d'Epargne angestellt. Das Team rückte bei der Tour 2009 in den Fokus, weil französische Ermittler in den Müllbeuteln der Mannschaft Insulinspritzen fanden. Der Verdacht (Bluttransfusionen) erhärtete sich nicht. Aber auch sonst sind Kolumbiens Anti-Doping-Netze löchrig; die Fahrer werden selten getestet, Epo, Wachstumshormon und Insulin sind frei verkäuflich. Oder die Profis werden direkt beliefert, von Dealern wie Alberto Beltran. Der "König des Dopings" wurde vor einem Jahr verhaftet.

Urán ist über all die Jahre unbehelligt geblieben. Er wirkt wie einer, der nicht eingeschüchtert ist von der Gelegenheit, die sich ihm plötzlich bietet, sondern erfreut. Er hat in 13 Profijahren bloß neun Etappen gewonnen, Silber im olympischen Straßenrennen 2012 dazu, aber er hat ein beachtliches Gespür entwickelt, im richtigen Moment da zu sein. "Was passiert, passiert. Wenn ich am Ende auf dem Podium lande, wäre das toll", sagt er. Tranquilo, dann wird schon alles gut.

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