Tour de France:Stolz und Schmerz

Marcel Kittel bei der Tour de France

Vielleicht wieder einer der Hauptdarsteller der ersten Tour-de-France-Wochen: der deutsche Sprinter Marcel Kittel, hier arg ramponiert nach einem Massensturz in den Bergen im vergangenem Jahr.

(Foto: Jeff Pachoud/AFP)

Zu gerne hätte sich Marcel Kittel das Grüne Trikot gesichert, aber nach seinem Sturz musste er aussteigen. Der Sprinter verlässt die Rundfahrt indes wie einer, der noch viel vor hat.

Von Johannes Knuth, Briançon

Marcel Kittel wirkte schon wieder gefasst, als er am Abend aus dem Teamhotel in La Salle-Les-Alpes trat. Seine blonden Haare fielen zur Seite, akkurat getrimmt wie immer. Ansonsten war er gezeichnet vom Frust eines Sportlers, der mit seinem Schmerz schon ein paar Runden im Kreis gelaufen war. Der aber auch wusste, dass dieser Dauerlauf irgendwann enden würde. Es sei "außergewöhnlich", fünf Etappensiege aus einer Tour herauszutragen, begann Kittel seine kleine Ansprache, aber jetzt, da ihm der Erfolg so treu gewesen war, hätte er die Rundfahrt schon gerne mit einem Sprint auf den Champs-Elysées in Paris beendet. Nicht in einem Graben neben der Landstraße D526 zwischen La Mure und Chantelouve. Kittel verortete seine Gemütsverfassung schließlich irgendwo zwischen dem Schmerz über seinen Sturz und den Stolz auf das Erreichte. Irgendwann, sagte er, "wird die Freude über den Erfolg überwiegen". Auch wenn dieses Irgendwann, das hörte man Kittel an, noch ein wenig in der Ferne lag.

Das war vielleicht eine von Kittels beachtlichsten Leistungen bei dieser 104. Tour de France: Wie der 29-Jährige seine Meriten jeden Tag gemehrt hatte, wie er all den Überhöhungen aber stets die Kraft nahm. Er rede sich jeden Tag ein, dass das Grüne Trikot des Punktbesten gar nicht auf seinen Schultern liege, hatte er zuletzt gesagt, "eine Unachtsamkeit, und alles wird zerstört". Es wirkte wie eine üble Laune dieser launischen Tour, dass sie Kittel am Mittwoch dann bei einer dieser Unachtsamkeiten erwischte - nicht in einem der halsbrecherischen Massensprints, nein, das Feld rollte sich gerade ein, als Kittel plötzlich "wieder auf der Straße aufwachte", während immer mehr Fahrer ungebremst in die ungesicherte Unfallstelle rauschten. Er fuhr mit Prellungen, Schürfwunden und zerkratztem Trikot weiter, aber da ähnelte Kittel schon einer Filmfigur, die durch den Dschungel robbt und diverse Nahkämpfe mit wildem Getier hinter sich hat. Rund 50 Kilometer später sah der Arnstädter ein: Mit Schürfwunden wie nach einer Urwaldrauferei lässt sich nicht mehr Rad fahren.

Erik Zabel bleibt der letzte Deutsche, dem das Grüne Trikot zugefallen war - 2001

Für Kittel endete somit eine Rundfahrt mit historischer Note, die ebenfalls zwei Deutungen zulässt. Er hat jetzt 14 Etappen bei der Tour de France gewonnen, eine mehr als der bisherige deutsche Rekordinhaber Erik Zabel. Das war just das Skript, das sich die Veranstalter erhofft hatten, als sie den Grand Départ für dieses Jahr ins Rheinland nach Düsseldorf vergeben hatten: ein eloquenter Botschafter, der sich auch gegen den Betrug positioniert, um das skeptische Publikum zu gewinnen. Noch lieber hätte Kittel diese Tour freilich mit den Insignien des besten Sprinters beendet, das Grüne Trikot war zuletzt 2001 einem Deutschen zugefallen, ebenfalls Zabel. Peter Sagan, der Favorit, war nach seinem vermeintlichen Rempler ja verstoßen worden. Stattdessen saß Kittel am Mittwoch im Begleitauto und weinte. Manche Verluste sind schmerzhaft, weil man sie kommen sieht und doch erschrickt, sobald einen der Schmerz packt. Dieser tat weh, weil er so unvorbereitet kam.

Die Gemütslage der deutschen Radfahrer ließ sich vor dem Wochenende an ähnlicher Stelle verorten: irgendwo zwischen dem Stolz über das Erreichte und den Ärger darüber, was ihnen entglitten war. John Degenkolb rauschte in Romains-sur-Isère seinem ersten Tour-Sieg entgegen, ehe Michael Matthews seine Fahrspur kreuzte - Degenkolb war für einen Moment so sehr von seiner Wut benebelt, dass er den Australier am Nacken packte. Kurz darauf war der Frust wieder verdampft, und sollte Matthews das Grüne Trikot bis nach Paris tatsächlich tragen, das er von seinem Widersacher Kittel geerbt hat, wäre das auch ein deutscher Erfolg. Simon Geschke und Nikias Arndt hatten die bisherigen zwei Etappensiege des Australiers vorbereitet, ihr Sunweb-Team ist zudem mit deutscher Lizenz ausgestattet. Und sonst? Der junge Emanuel Buchmann (Bora-hansgrohe) hält sich wacker auf Rang 15 des Klassements. Bleiben noch eine Chance für Tony Martin im Zeitfahren, dazu ein, zwei Sprintankünfte für André Greipel. Der Rostocker wirkte zuletzt aber von der Wehrhaftigkeit alter Tage entfernt; gut möglich, dass er seine erste Tour ohne Etappensieg erlebt.

Für welches Team Kittel fahren wird, will er in Ruhe in den kommenden Tagen entscheiden

Das Schöne ist auch deshalb so schön, weil es im Sport so schnell vergeht, und so blieben Kittel fürs Erste nur die Erinnerungen an die Erfolge, als er am Donnerstag die Tour verließ. "Das ist auch etwas sehr Positives", befand er, überhaupt könnte die Zukunft schlimmer aussehen. In den kommenden Wochen kann er die Tour mit ein paar Auftritten in der Heimat veredeln, bei den Hamburg Cyclassics etwa. Und ohnehin, sagt Tom Steels, der Sportdirektor bei Kittels Quick-Step-Team, "kann er in den nächsten fünf, sechs Jahren auf diesem Level fahren". So lange sein Geist frisch sei und er seinem Beruf so nachgehe wie bisher, gewissenhaft, nicht zu verbissen. Ob er dabei den Belgiern von Quick-Step treu bleibt oder doch ein lukrativeres Angebot annimmt, wolle er bald in Ruhe entscheiden, sagte Kittel. Dann verließ er also die Tour, wie einer, der nicht nur viel hinter sich, sondern auch noch manches vor sich hat.

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