Start der 105. Tour de France:Tour d'Allemagne?

Marcel Kittel bei der Tour de France

Vielleicht wieder einer der Hauptdarsteller der ersten Tour-de-France-Wochen: der deutsche Sprinter Marcel Kittel, hier arg ramponiert nach einem Massensturz in den Bergen im vergangenem Jahr.

(Foto: Jeff Pachoud/AFP)
  • Zum Start der 105. Tour de France sind viele Blicke auf die deutsche Abordnung gerichtet.
  • In den vergangenen Jahren waren die Deutschen schließlich oft die dominanteste Kraft, mal abgesehen von Seriensieger Froome.
  • Dieses Mal stehen die Vorzeichen allerdings nicht auf "Tour d'Allemagne".

Von Johannes Knuth, La-Roche-sur-Yon

Die genauen Werte sind bis heute nicht bekannt, sie wurden von der medizinischen Abteilung vermutlich streng verwahrt. So langsam, fand der Radprofi Marcel Kittel jedenfalls vor einem Jahr bei der Tour de France, werde es "ein bisschen viel mit dem Anstoßen".

Kittel sagte damals nach jedem seiner Etappensiege einen Trinkspruch im Teamhotel auf, schenkte sich und den Kollegen Champagner ein, und weil er damals fünf Tageserfolge aneinanderreihte, war das seinen Leberwerten vermutlich nicht immer zuträglich. Was immer er in den Massensprints anstellte, wann er aus dem Windschatten ausbrach, ob er sich ans Hinterrad eines Konkurrenten klemmte - es war fast immer das richtige Manöver. Kittel läuft wie ein großmotoriger Truck, der langsamer beschleunigt, den Schwung dafür kraftvoller mitnimmt. "Wenn er ins Rollen kommt", sagte Tom Steels, sein damaliger Sportdirektor bei Quickstep, "ist er kaum aufzuhalten." Und jetzt?

Die Tour war in den vergangenen Jahren nicht selten eine Tour d'Allemagne, abgesehen von der Dominanz des viermaligen Gesamtsiegers Christopher Froome, und das provozierte manch neidvollen Blick im Ausland. Wer hatte schon einen smarten Sprinter wie Kittel, mit 14 Tageserfolgen bester Deutscher, einen André Greipel, Kampfname Gorilla, einen Schmerzensmeister wie Tony Martin, Allrounder wie Roubaix-Sieger John Degenkolb und Domestiken wie Simon Geschke, der nebenbei eine Alpenquälerei gewann? Die deutschen Profis bekamen viel Euphorie an der Strecke zu spüren, nur in der Heimat schauten manche indigniert weg, wegen des jahrelangen Pharmabetrugs der Vorfahren. Heute überträgt das öffentlich-rechtliche Fernsehen längst wieder, die Deutschland-Tour gibt im Herbst ihr Comeback, nach zehn Jahren. Nur mit der Tour d'Allemagne wird es bei der Frankreich-Rundfahrt, die am Samstag in der Vendée beginnt, komplizierter als sonst.

An Kittels neuem Arbeitgeber, Katjuscha-Alpecin, kann man das gut studieren. Die Equipe wird weiter vom russischen Milliardär Igor Makarow unterstützt, fährt aber seit 2017 unter Schweizer Flagge, und hat einen kräftigen deutschen Anstrich bekommen. Der mehrmalige Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin stieß vor zwei Jahren dazu und bekundete immer wieder, dass man die alte Dopingkultur rigide bekämpfe, bis hin zur Taschenkontrolle der Fahrer. Der Sprintzug, der bis zur letzten Saison den Norweger Alexander Kristoff in Position brachte (was am Ende nicht mehr zu vielen Champagner-Umtrünken führte), ist mit Nils Politt, Rick Zabel und dem Österreicher Marco Haller besetzt. Als Kittel im Winter kam, war die Vision klar: ein deutschsprachiger Zug, mit dem 30-Jährigen als Vollstrecker. Das hat in diesem Jahr aber erst zwei Mal geklappt, zuletzt vor vier Monaten. Ein Stotterstart für den Mann mit dem großen Motor.

Die Beine sollen wieder von alleine kurbeln

Kittel sitzt am Donnerstag im Teamhotel, weißes T-Shirt, die blonden Haare akkurat zum Scheitel geformt. Er berichtet leise und zurückhaltend vom "sehr guten Training in den letzten Wochen", dass er eine Etappe gewinnen wolle, wie jedes Jahr, dass er diesmal aber "nicht der Topfavorit" sei. Die Abstimmung mit den neuen Anfahrern erfordert Geduld, die Kittel durchaus hat, sein Geschäftsführer aber nicht immer. Der Schweizer Alexis Schoeb schimpfte nach den missglückten Sprints im Frühjahr in der NZZ über "Anfängerfehler" (Kittels Vorgänger Kristoff hatte er mal Übergewicht unterstellt). Im April wurde dann Haller, einer der wichtigsten Helfer, von einem Auto angefahren und fällt nun für die Tour aus. Auch Kittel wirkt nach seinem Sturz bei der vergangenen Tour, der ihn zur Aufgabe zwang, und dem Umzug zu Katjusha noch nicht bei alter Stärke. Bei den deutschen Titelkämpfen vor einer Woche wurde er Zehnter. Am Donnerstag sagt er: "Manchmal war ich einfach nicht vorne bei den Sprints dabei."

Andererseits: Erst bei der Tour zählt es richtig. Vor allem bei der ersten, für die Sprinter gemachten Etappe, die weniger nach Radsport klingt, sondern nach Edelkäse-Theke: es geht von Noirmoutier-en-L'Île nach Fontenay-Le-Comte. Kittel könnte im besten Fall nicht nur den Etappensieg und das Gelbe Trikot auf sich vereinen. Der erste Spurtsieger der vergangenen Jahre erwischte oft eine Welle des Selbstvertrauens, die ihn und seine Helfer in der Folge die Sprints dominieren ließ. "Wenn du die erste Etappe gewinnst, kurbeln die Beine fast von alleine", weiß Kittel, er kennt das auch von 2013 und 2014. Die Zahl der Mitbewerber ist freilich groß, vor allem dank Fernando Gaviria und Peter Sagan von der oberbayerischen Equipe Bora-hansgrohe. Und die süßen Vorteile der ersten Etappe können sich schnell ins Gegenteil verkehren: Wenn der Spurt misslingt, wächst mit jedem Tag die Unruhe.

Die deutsche Abordnung ist etwas kleiner als im Vorjahr

André Greipel kennt das von der vergangenen Tour. Der Routinier, elfmaliger Tagessieger in Frankreich, hechelte damals vergeblich einem Erfolg hinterher. Im März brach er sich das Schlüsselbein, aber: "Die letzten Leistungen sagen mir, dass ich zur Tour in Topform sein werde", befindet er. Es wäre auch eine kleine Botschaft an sein Team Lotto Soudal. Greipel wird während der Tour 36 Jahre alt, sein Vertrag läuft aus, zuletzt machten Berichte die Runde, dass Lotto sich einen Nachfolger ausgeguckt habe (das Team dementierte). Auch John Degenkolb, 29, hat die Hoffnung auf seinen ersten Tour-Etappensieg noch nicht aufgegeben; er hat sich nach seinem schweren Unfall vor zwei Jahren zuletzt wieder verbessert gezeigt. Und sonst?

Die deutsche Abordnung ist mit elf Fahrern etwas kleiner, die Rundfahrt-Talente Emanuel Buchmann und Maximilian Schachmann bekommen eine Pause. Bleiben noch die Helfer - und Tony Martin. Der hat sich mit seinem achten deutschen Zeitfahr-Titel aus seiner Formschwäche befreit ("der alte Tony ist wieder da"). Doch weil die klassischen Zeitfahren seltener werden, wird Martin diesmal Kittel helfen und sich als Ausreißer versuchen, bei der schweren Kopfsteinpflasterprüfung nach Roubaix etwa. Sollte ihm dort sein sechster Etappensieg gelingen, wäre das aber wohl weniger ein Stärkebeweis des alten Tony Martin. Sondern eines neuen.

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