Tour de France:Nur noch ins Ziel stürzen

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Schmerzhafter Zwischenstopp: Die ersten Etappen der 105. Tour de France waren erneut von diversen Stürzen und Aufgaben geprägt.

(Foto: Philippe Lopez/imago/Panoramic International)

Mit neuen Zeitnahmeregeln und verkleinerten Teams versuchen Weltverband und Veranstalter, die hektischen Etappen sicherer zu machen. Nicht jede Neuerung erzielt den gewünschten Effekt.

Von Johannes Knuth, Mur-de-Bretagne/München

Am Dienstag hatte es dann Ilnur Zakarin erwischt. Der Russe stürzte rund fünf Kilometer vor dem Ziel, er kletterte wieder aufs Rad, verlor aber wertvolle Zeit auf seine Rivalen im Kampf um die Gesamtwertung - auch, weil Zakarin vergessen hatte, sein Team per Funk über sein Malheur zu unterrichten. Die Sportchefs im Begleitauto von Katjuscha-Alpecin erfuhren erst über das offizielle Radio der Tour, dass es ihren Kapitän erwischt hatte; zu spät, um zusätzliche Einsatzkräfte zum Verunfallten zu beordern.

Es war ein schwacher Trost, aber Zakarin war nur einer von diversen Favoriten, die während der ersten, hektischen Etappen dieser 105. Tour de France stürzten oder Zeit verloren: Christopher Froome, Richie Porte, Nairo Quintana. "Es kann jeden treffen", sagte Zakarins Vorgesetzter Dimitrij Kontschew am Dienstag zerknirscht, dann fügte er an: "Das ist halt die Tour."

Es gehört ja fast schon zur Tradition dieser Tour: fiebrige Massenankünfte in den ersten Tagen, Stürze, Fahrer, die mit schmerzverzerrter Miene auf dem Asphalt hocken. Der Mythos jeder Rundfahrt speist sich halt auch daraus, dass es nicht alle bis ins Ziel schaffen. Aber nach einer Reihe von schweren, mitunter sogar tödlichen Unfällen in den vergangenen Jahren waren nicht nur die Tour-Veranstalter mehr denn je dazu gezwungen, die Statistik zu verbessern. Ein Blick in die Liste der Schadensfälle in diesem Jahr liest sich freilich wenig ermutigend: Der Spanier Luis Leon Sanchez gab nach einem Ellenbogenbruch auf, so wie Tiesj Benoot (ausgekugelte Schulter), Axel Domont und Robert Kiserlovski (beide Schlüsselbeinbruch). Der Amerikaner Lawson Craddock stürzte auf der ersten Etappe und fand im Ziel heraus, dass er sich das Schulterblatt gebrochen hatte. Craddock quälte sich auch am Donnerstag ins Rennen, auf der schweren Etappe an die Mûr-de-Bretagne.

Der Ire Dan Martin gewann übrigens diese Etappe, auf der zwei weitere Favoriten Zeit auf die Spitze um Gelb-Inhaber Greg van Avermaet verloren: Romain Bardet (31 Sekunden) und Tom Dumoulin (53).

Eine Neuerung, die seit diesem Jahr die Rennen sicherer machen soll, war die Maßnahme des Weltverbands, die Teams bei Rundfahrten von neun auf acht Fahrer zu schrumpfen. Das Kalkül: Weniger Fahrer (176 statt 196 bei der Tour), weniger Begleitfahrzeuge und -motorräder, weniger Unfälle. Und die Praxis? "Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dadurch sicherer wird", sagte der Deutsche Marcel Kittel zum Tour-Start, und mit diesem Wahlspruch dürfte er spätestens nach den ersten Tagen die absolute Mehrheit im Peloton erreichen. "Am Ende einer Etappe wollen alle vorne fahren", weiß Kittel, um Stürze zu vermeiden: "Das wird auf jeden Fall eng, ob mit acht oder neun Mann pro Team." Der Stellenabbau im Peloton sei an anderer Stelle viel stärker zu spüren: Sobald ein Fahrer ausfällt, wiegt das noch schwerer, vor allem für Teams wie Katjuscha, die neben Zakarin auch Kittel mit Helfern versorgen müssen, für die Sprints. Die einzige Erleichterung durch die Acht-Mann-Regel sei, sagt Kittel, "dass es keine Diskussionen mehr gibt, wer ein Einzelzimmer bekommt".

Die Probleme wurzeln freilich tiefer, sie sind kaum mit einer Regeländerung in den Griff zu bekommen. Das Material werde immer besser, das Feld auf den letzten Metern immer schneller, sagt Ralph Denk, Teamchef der deutschen Bora-hansgrohe- Equipe. Viele Städte würden mehr Kreisverkehre und Tempobrecher errichten, kleine Erhebungen auf der Straße. Schön für die Anwohner, weniger schön für ein aufgekratztes Peloton, das mit 75 Kilometern pro Stunde ins Ziel stürzt. Viele Ankünfte sind verwinkelt, wie bei den ersten beiden Etappen in diesem Jahr. "Es ist absehbar, dass auf solch kleinen Straßen mit einem nervösen Feld und vielen Zuschauern totaler Wahnsinn herrscht", sagt Kittel, "man sollte den Rennfahrern vielleicht ein bisschen mehr Platz geben."

Die Sehnsucht nach Spektakel vernebelt manchem Veranstalter immer mal wieder die Sinne. Der Giro d'Italia lobte vor einem Jahr eine Wertung für den besten Abfahrer aus - eine Idee, die vor Zynismus triefte, weil die Abfahrten mit bis zu 90 km/h sowieso lebensgefährlich sind und der Amerikaner Chad Young erst kurz zuvor bei einer solchen gestorben war. Die Fahrer schäumten vor Wut, die Organisatoren strichen die Wertung noch vor dem Start. Andere Proteste verpufften, auch, weil den Fahrern eine starke Interessenvertretung fehlt. Beim Giro im vergangenen Mai rauschte das Peloton kurz vor dem Ziel durch zwei unbeleuchtete Tunnel, in einer Abfahrt bei 80 km/h. Der deutsche Profi Tony Martin beschwerte sich bitterlich bei der Jury: Sorry, aber da könne man leider nichts machen, habe man ihm gesagt.

Die vergangenen Jahre schienen immerhin von etwas mehr Miteinander geprägt zu sein - und manch sinnvoller Neuerung. Bei Sprintankünften können Fahrer mittlerweile bis zu drei Sekunden hinter der Spitze ins Ziel kommen (statt einer Sekunde), um mit derselben Zeit gewertet zu werden. "Das hat wesentlich zur Sicherheit beigetragen", findet Kittel, weil die Favoriten im Klassement weiter hinten im Feld sitzen können. Letztlich, sagt Weltmeister Peter Sagan, der am Mittwoch in Quimper zum zweiten Mal bei dieser Tour eine Etappe gewonnen hatte, komme es nicht auf die Zahl der Fahrer an. Sondern auf die Fahrer selbst, die sich immer risikobereiter in die Sprints werfen würden.

Einer, der auf der zweiten Etappe auf diese Weise aufgefallen war, war übrigens: Peter Sagan.

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