Tour de France:Jan Ullrich schwebt auf Wolke sieben

Der Deutsche wird nach zwei Pyrenäen-Etappen im Dreikampf mit Armstrong und Winokurow favorisiert

Andreas Burkert

(SZ vom 21.7.2003) Loudenville-Le Louron - Runter vom letzten Berg der 14. Etappe bis ins Ziel: Jan Ullrich am Hinterrad von Lance Armstrong. So bleibt es auch in der Gesamtwertung, der Amerikaner in Gelb, der Deutsche eins dahinter. Alexander Winokurow ist ihnen allerdings erheblich näher gerückt, dem kasachischen Telekomfahrer fehlen nur noch 18 Sekunden zu Armstrong, drei zu Ullrich. Den Tagessieg (seinen ersten) holte Simoni (Italien) vor Dufaux (Schweiz) und Virenque (Frankreich).

Alle ungefährlich in der Gesamtwertung, also ließ man sie ziehen. Armstrong und Ullrich reagierten allerdings auch nicht, als Winokurow wegstiefelte (gemeinsam mit Iban Mayo) - dadurch wurde aus dem Duell endgültig ein Dreikampf.

Ullrich begab sich gestern früh gelassen lächelnd an den Start. Vorne in der ersten Reihe ging Armstrong in Position, Ullrich sah das Gelbe Trikot aus sicherer Entfernung. Und doch war er ihm ganz nah. Auf 15 Sekunden hatte sich der 29-Jährige am Samstag dem Machtmenschen aus Austin, Texas, genähert. Platz zwei hinter dem Spanier Carlos Candil Sastre, der erste Profierfolg überhaupt für den Madrilenen. Das war nett anzusehen, wie der sich freute und mit einem Schnuller die Lieben daheim grüßte.

Ullrich dagegen ließ im Ziel von Ax-3 Domaines erschöpft den Kopf baumeln, hatte sich bis zum Äußersten verausgabt. Doch dieser zweite Platz vor dem Basken Zubeldia und Armstrong zählte trotz der geringen Abstände fast mehr. Rudy Pevenage wusste das, Ullrichs Betreuer beim Team Bianchi sagte: "Ich bin froh, dass Jan keine Angst gehabt hat." Angst davor, Armstrong zu attackieren.

Einen Angriff hatte man auf der Tour zuletzt 1998 von ihm gesehen. Auf dem Weg nach Albertville, im Duell mit Pantani. Zwei Jahre später, auf der letzten Alpenetappe nach Joux-Plane, machte Ullrich eineinhalb Minuten auf Armstrong gut. Der damals deutlich führende Amerikaner hatte zu wenig gegessen, er litt an einem Hungerast. Aber er kämpfte sich durch, die Tour war abends endgültig entschieden. Sollte Jan Ullrich die 90. Tour gewinnen, wird man sich irgendwann an diesen Samstag von Ax-3 Domaines erinnern. Als er Lance Armstrong erstmals wirklich angriff.

Es geschah zwei Kilometer vor dem Ziel, und so sehr seine Begleiter seit Jahren einen solchen Moment herbeisehnten - so verblüfft waren sie, als es passierte. Wie Pevenage: "Als Jan das machte, davon war ich überrascht." Zunächst konterte Ullrich die Eröffnung des Schauspiels von Zubeldia, nahe der 3000-m- Marke. Winokurow konnte folgen, doch Armstrong hatte Mühe, das Loch zu schließen. Ullrich spürte das, und er nahm jetzt Armstrongs Rolle ein: Er spielte mit ihm. Immer wieder schaute er zum Amerikaner hinüber, in ein gezeichnetes Gesicht. Die Anstrengungen des Zeitfahrens vom Freitag konnte der Deutsche dort sehen, "es war hart, zu hart", sagte Armstrong später, "nach so einem Tag konnte ich mich nicht so schnell erholen." Ullrich schaffte das.

Einen Kilometer später ging Winokurow. Natürlich er, seine vierte Attacke am vierten Tag im Hochgebirge. Ullrich wirkte kurz unentschlossen, doch dann folgte er seinem kasachischen Freund vom Team Telekom. Armstrong, längst isoliert von seinen Helfern, blieb zurück; er versuchte gar nicht die Parade reposte, er senkte seinen Kopf und trat sein Tempo. Ullrich verstand jetzt: ein Angriff, eine Attacke. Er riss seine Augen auf und seinen Mund und trat jetzt "Anschlag", wie er das häufig nennt. Ließ Winokurow zurück und kämpfte gegen Zubeldia um die zwölf Sekunden Zeitgutschrift für Rang zwei. M

an erkannte ihn in diesen Momenten genau wieder, den Ullrich von 1997. Hochfrequenz tretend. Entschlossen. Gierig. Kraftvoll und selbstbewusst. Ullrich habe das alles selber entschieden, berichtete sein Sportchef am Abend, "das war nicht abgesprochen". Rudy Pevenage war sehr froh, und Jan Ullrich sagte: "Ich schwebe auf Wolke sieben."

Er ist jetzt der Favorit auf den Toursieg. Der Deutsche habe im Zeitfahren "ein Massaker mit dem Feld angerichtet"", dichtete der Tour-Feldherr Jean-Marie Leblanc. "Seit Samstag ist Ullrich der große Favorit", sagte Armstrongs Sportdirektor Johan Bruyneel. Und Bjarne Riis, Ullrichs früherer Teamkollege und heute Leiter von CSC, ließ keinen Zweifel: "Jan gewinnt die Tour." Nur Ullrich und Pevenage reden nicht darüber. Das ist dieses Jahr ihre Masche. Tiefstapeln. Sie wissen, wie gut sie sich diesmal vorbereitet haben, aber auch um die Stärke von Armstrong und Winokurow. Er habe das Fieber der ersten Woche besiegt, das sei "das Allerwichtigste", sagte Ullrich, "jetzt bin ich auf dem Stand, den ich die ganze Tour haben wollte".

Sein Mentor Pevenage lässt sich offiziell nur entlocken, dass er am Samstag ebenfalls den jungen Ullrich gesehen habe. "Er ist jetzt so gut wie 1997", sagte der Belgier. Damals haben sie zusammen die Tour gewonnen.

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