Tour de France:"Froome hatte einfach Panik"

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Zum Laufen gezwungen: Christopher Froome rannte nach einem Sturz auf der Königsetappe den Mont Ventoux hinauf. (Foto: Stephane Mantey/AFP)

Ex-Radprofi Jens Voigt erklärt die Sprinteinlage des Tour-Führenden, warum Zuschauer sicher besser benehmen sollten und warum er einst mit einem Kinderrad weiterfuhr.

Interview von Matthias Schmid

Der ehemalige Radprofi Jens Voigt hat 17 Mal an der Tour de France teilgenommen - gemeinsam mit George Hincapie (USA) und Stuart O'Grady (Australien) ist er damit Rekordhalter. Inzwischen begleitet der 44-jährige Wahl-Berliner die Tour de France für den amerikanischen Fernsehsender NBC und war live dabei, als am Donnerstag der Führende Chris Froome nach einem Sturz den Mont Ventoux hochgejoggt ist. Im Interview erklärt Voigt, dass die Laufeinheit keine Show, sondern Panik war, wie man solche Stürze künftig vermeiden kann und warum er mal mit einem Kinderrad weiterfahren musste.

SZ: Herr Voigt, das tragische Attentat von Nizza überschattet die spektakuläre Etappe gestern hinauf zum Mont Ventoux, als der Führende Chris Froome nach einem Unfall ein paar Meter den Berg hochjoggte. Die Tour wird aber fortgesetzt. Finden Sie das angemessen?

Jens Voigt: Es ist richtig, dass es weitergeht. Die Terroristen wollen ja gerade unseren Alltag treffen, sie wollen unser gewohntes Leben zerstören, Angst verbreiten, deshalb dürfen wir uns von ihnen nicht den Alltag diktieren lassen. Der Anschlag ist eine schreckliche Tragödie , einfach unglaublich, vor allem dieses Ausmaß. Unvorstellbar für den menschlichen Verstand. Und eine neue Dimension des Terrors, wer hätte denn vor Jahren geglaubt, dass so viele Menschen von einem Lastwagen einfach umgefahren werden?

Zurück zur Tour: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie Froome den Mont Ventoux hochlaufen sahen?

Wir konnten unseren Augen zunächst gar nicht trauen, als er plötzlich zu joggen begann. Wir wussten auch gar nicht, wie wir das kommentieren sollten. Das war ja unglaublich, ein Schock. Ich sitze auf Höhe der Ziellinie und kommentiere die Livebilder, die ich vor mir auf dem Monitor sehe. Ich hatte überhaupt keine genauen Informationen darüber, was da gerade vor sich ging und wie viele Fahrer in den Sturz involviert waren. Ich fragte mich, wo denn sein Teamwagen ist und wie er jetzt ohne Rad ins Ziel kommen möchte?

Er schaffte es dann noch mit einiger Verspätung und einem Ersatzrad, und zunächst verlor er das Gelbe Trikot des Führenden. Die Jury entschied aber hinterher auf einen unvermeidbaren Unfall und wertete das Klassement zum Zeitpunkt des Unfalls. Froome fährt weiter in Gelb. Die richtige Entscheidung?

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Es war die einzig gangbare Lösung, die Zeitabstände im Moment des Sturzes einzufrieren. Alles andere hätte den Wettbewerb völlig verzerrt und gar nicht den realen Leistungstand der Fahrer abgebildet.

Haben Sie auch schon mal den Berg im Stile eines Marathonläufers erklommen?

Das nicht, aber ich bin mal mit einem Kinderfahrrad weitergefahren.

Mit einem Kinderfahrrad?

Das war 2010 bei der Tour. Ich bin auf einer Abfahrt gestürzt. Und bis mich die Ärzte wieder fahrtüchtig gemacht hatten, weil ich eine stark blutende Wunde am Ellbogen hatte, waren nur noch der Kranken- und der Besenwagen (das letzte Fahrzeug im Tour-Tross; Anm. d. Red.) da, ein paar Zuschauer und eben dieses Auto mit zwei gelben Kinderrädern auf dem Dach.

Touristen?

Nein, das waren schon kleine Rennräder. Denn vor dem Start jeder Etappe dürfen im Vorprogramm ein paar Nachwuchsfahrer der örtlichen Klubs die Strecke vor den Profis abfahren. Das Auto war Teil dieses Programms, mit dem die Tour-Verantwortlichen die Kinder und Jugendlichen für die Rundfahrt begeistern wollen. Ich fragte also, ob ich mir eines der Räder ausleihen durfte.

Das Rad war doch viel zu klein.

Ich habe den Sattel so weit es eben ging hochgedreht und habe mir gesagt, dass ich einfach solange fahre, wie es eben geht mit den niedrigen Gängen. Ich bin dann fast 20 Kilometer gefahren. Da gibt es sogar noch herrliche Bilder davon im Internet.

Der Teufel ist nah: Jens Voigt bei der Tour 2013. (Foto: Nicolas Bouvy/dpa)

In solch einer Situation überlegt man als Fahrer nicht lange, sondern joggt und schnappt sich einfach das nächste Kinderrad?

Man ist in diesem Moment als Fahrer schon gestraft genug und macht das nicht, um aufzufallen, sondern weil man verzweifelt ist. Man will einfach vom Fleck kommen. Genauso wie Froome am Mont Ventoux. Man hört in diesem Moment überhaupt nichts, weil die Zuschauer um einen herum so laut schreien. Die Fahrer bekommen nichts mit, was ihnen über den Funk ins Ohr geflüstert wird. Froome hatte einfach Panik und wollte nur noch weg. Weil er kein Rad hatte, lief er einfach los. Er konnte sich nicht vorstellen, wie bei diesen Menschenmassen ein Auto mit seinem Ersatzrad durchkommen sollte. Das sah für die Zuschauer spektakulär aus, aber die Sportler wollen solche Bilder nicht sehen.

Das ist der schmale Grat, der bei der Tour oftmals zu beobachten ist. Die Tour lebt ja von der Nähe zu den Fans, die ihre Vorbilder berühren, am liebsten sogar hochschieben wollen. Aber die Sicherheit leidet darunter. Warum gab es denn am Mont Ventoux keine Gitter 1,2 Kilometer vor dem Ziel?

Meiner Meinung nach kann es da nur zwei Erklärungen geben. Die Etappe war ja am Vorabend aufgrund der starken Winde auf dem Gipfel um sechs Kilometer verkürzt worden. Entweder hatten die Verantwortlichen keine Zeit, die Barrieren alle rechtzeitig aufzubauen. Oder aber sie haben darauf verzichtet, weil die Stürme die Gitter hätten umwerfen und so auch zu einer Gefahr werden können. Eine offizielle Erklärung habe ich dazu nicht vernommen.

Es hat ja schon häufiger Unfälle mit Begleitfahrzeugen oder Motorrädern gegeben. Am Ostersonntag war der belgische Radprofi Antoine Demoitié von einem Fahrzeug erfasst worden und später im Krankenhaus gestorben. Der dreimalige Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin fordert nun, dass ehemalige Radprofis die Fahrzeuge lenken sollten, weil sie die Rennsituationen besser einschätzen können. Eine denkbare Lösung?

Es ist leider nicht so einfach. Man könnte auch den Begleittross verkleinern. Aber wen wollen sie rausschmeißen? Den Sponsor, der gerade einige Millionen Euro in den Rennstall investiert hat? Die Sportlichen Leiter mit den Ersatzrädern? Die Pressefotografen, die davon ihren Lebensunterhalt verdienen? Ich sehe keine Lösung, die alle befriedigen würde.

Aber wie finden Sie den Vorschlag von Tony Martin?

Das wäre zumindest ein Anfang. Es müsste sich ohnehin jeder Fahrer eines Begleitfahrzeuges über die Konsequenzen im Klaren sein. Im Fall eines Zusammenstoßes verliert immer der Radfahrer. Sie müssen sich fragen, ob es sich wirklich lohnt zu überholen. Hängt jetzt mein Job oder sogar mein Leben davon ab oder kann ich doch noch ein, zwei Minuten warten.

Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass nicht schon mehr passiert ist.

Ich plädiere sogar dafür, dass es für die Zuschauer an der Strecke eine Art Knigge geben sollte, ein Benimmvideo, wie ich mich an der Strecke zu verhalten habe, damit nichts passiert. Dieses sollte in verschiedenen Sprachen ins Netz gestellt werden oder am jeweiligen Startort gezeigt werden. Die Begeisterung am Straßenrand kriegen die Fahrer natürlich mit, diese besondere Nähe. Aber die Zuschauer sollten den Vertrauensvorschuss auch zurückzahlen. Sie sollen an, aber nicht auf der Strecke stehen.

Denn auch sie leben gefährlich.

Es ist in der Tat so, dass die Begleitfahrzeuge bei Bergetappen über einige Füße fahren. Ich kann Ihnen bestätigen, dass das kein schönes Geräusch ist.

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