Tour de France:Die nächste Sensation

Floyd Landis erlebt in den Alpen einen denkwürdigen Einbruch - am Tag darauf nähert er sich als Etappensieger wieder der Spitze.

Andreas Burkert

Der große Verlierer des Tages lümmelte am Abend im Mannschaftshotel in Les-deux-Alpes auf einer Couch und gab entspannt wie selten Auskunft; als sei mit dem Verlust des gelben Trikots eine schwere Last von seinen Schultern genommen worden.

landis, afp

Floyd Landis kämpfte sich mit einer langen Soloflucht an die Spitze der Bergetappe zwischen Saint-Jean-de-Maurienne und Morzine.

(Foto: Foto: AFP)

"Ich will nicht nach Erklärungen suchen", sprach er aufgeräumt in die kleine Runde, "es ist halt passiert, es kam alles zusammen." Er wusste ganz genau, dass er an diesem Tag die Tour verloren hatte.

Fast auf den Tag genau acht Jahre ist das nun her, und es galt als ausgeschlossen, dass man während der 93. Tour de France noch einmal an den Radfahrer und damaligen Titelverteidiger Jan Ullrich erinnern müsste.

Ein typischer Hungerast?

Doch natürlich stieß man bald auf den demnächst wohl arbeitslosen Rostocker, als die Geschichtsbücher der Tour nach Beispielen für jenes Drama durchsucht wurden, das Floyd Landis, 30, an diesem Mittwoch im 19 Kilometer langen Anstieg nach La Toussuire durchlebt hat.

Jan Ullrich erlitt im Juli 1998 einen Hungerast; davon reden Radprofis, wenn ihr Tank leer ist, ganz plötzlich und unerwartet; eine Art Unterzuckerung infolge unzureichender Ernährung.

Ullrich ist damals beinahe erfroren auf der Abfahrt vom berüchtigten Col du Galibier, er war unzureichend bekleidet für die nur sechs Grad plus und die schneidigen Winde, die durch Hoch-Savoyen fegten. Und Ullrich hatte zu wenig gegessen. Fast neun Minuten verlor er auf Marco Pantani, den späteren Sieger, der nicht mehr lebt.

Floyd Landis, 30, hat am Mittwochabend keine Erklärung gefunden für seinen jour sans, den gefürchteten Tag, an dem nichts geht. Auch er wirkte beinahe gelöst, als er am Abend noch einmal sein blasses Gesicht durch die Hoteltür steckte und sehr geduldig Auskunft gab.

Er habe sich den ganzen Tag nicht gut gefühlt, berichtete er, "ich habe versucht, es zu verbergen, aber es ging nicht". Er habe keinen Hungerast gehabt (obwohl er den Verpflegungsbeutel ungeöffnet wieder abgegeben hatte), und mit der Hitze oder seiner lädierten rechten Hüfte, die nach der Tour von einer Prothese ersetzt werden soll, "hatte das auch nichts zu tun".

Die nächste Sensation

Diese Tour hat bereits einige Kuriositäten hervorgebracht; sie hat den durchaus talentierten spanischen Kletterer Oscar Pereiro nach einer denkwürdigen Bummelei des Pelotons zum Mitfavoriten auf den Gesamtsieg befördert, in La Toussuire zog er wieder das Gelbe Trikot an.

Und die Tour macht neuerdings den Eindruck, sich in einen halbwegs seriösen Wettbewerb Normalsterblicher verwandelt zu haben dank der Dopingrazzia von Madrid und dem folgerichtigen Erdbeben vor dem Prolog in Straßburg.

Zu diesem neuen Rennen, das vielleicht wirklich von der Mehrheit mit nur einer einzigen Geschwindigkeit absolviert wird, gehört unter Umständen auch ein logischer Kollaps eines beanspruchten Kapitäns.

Landis Leiden

Einen solchen Zusammenbruch würde ja jeder Wissenschaftler voraussagen, wenn er den aktuellen Etappenplan mit drei Alpenetappen am Stück zu analysieren hätte. "Das kann jedem passieren, ich bin das lebende Beispiel", hat Floyd Landis am Mittwochabend gesagt.

Als der Kalifornier elf Kilometer vor La Toussuire die versammelte Konkurrenz aus den Augen verloren hatte (am Ende hatte er zehn Minuten eingebüßt), blieb seinen Begleitern nur noch der leise Zuspruch. Ändern konnte sie an dem Debakel nichts.

"Fahr' deinen Rhythmus, hab' keine Angst", sprach Phonak-Teamchef John Lelangue durch das Fenster seines Teamwagens. Landis reagierte nicht. Er litt.

Lelangues Kollege Jacques Michaud saß etwas weiter hinten in der Karawane im zweiten Phonak-Auto, fassungslos starrte er auf den kleinen Fernseher neben dem Lenkrad. "Ich habe auf dem Bildschirm jemanden gesehen, der zusammenbricht", berichtete der Franzose, "es war das Bild einer Katastrophe".

Eine Sensation

Landis habe "einfach nur resigniert", erzählte T-Mobile-Sportchef Mario Kummer über jene Sekunden, in denen sein Auto am durchnässten Maillot Jaune vorbei lenkte. "Er hat fast geparkt, und dieser Augenblick war unglaublich, bei ihm herrschte totale Stille." Dass Landis überhaupt noch hochgefahren ist auf den Gipfel im Sybelles-Massiv, ist vielleicht seine größte Leistung gewesen. Trotz der sagenhaften Reaktion, die Landis am nächsten Tag zeigen sollte.

Floyd Landis hat am Mittwochabend auf seinem Hotelzimmer geweint. Den Journalisten sagte er eine Stunde später, als er wieder lächelte, dass dieses Lächeln jetzt "meine Waffe ist, die schlimmen Dinge des Lebens akzeptieren zu können". Er habe jetzt nur noch einen Wunsch, sagte er zum Abschied in eine unruhige Nacht. "Ich möchte jetzt nur noch Bier trinken."

Jan Ullrich hat sich 1998 nach seinem verheerenden Einbruch in eine heiße Wanne gesetzt und dabei zwei Schüsseln Müsli verputzt. Wortlos, fast apathisch. Am nächsten Tag gewann er die Königsetappe nach Albertville, im Sprint vor Pantani.

Landis ist am Donnerstag, am Tag nach seiner schwersten Niederlage, früh ausgerissen. Auf der Abfahrt vom vorletzten Anstieg, dem Colombière, hatte er unglaubliche neun Minuten Vorsprung auf Pereiro, Klöden und die anderen. Landis gewann die Etappe, er darf nun sogar wieder an Gelb denken. Solch eine Sensation hat noch niemand vollbracht.

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