Tour de France:Die Hölle ist diesmal sechs Kilometer kürzer

Tour de France: Auch für die Besten eine Qual: Christopher Froome gewann 2013 die Etappe am Mont Ventoux.

Auch für die Besten eine Qual: Christopher Froome gewann 2013 die Etappe am Mont Ventoux.

(Foto: Gepa Pictures/Imago)
  • Elf Fahrer liegen binnen 1:35 Minuten: Die Tour de France ist so eng wie lange nicht.
  • Am gefürchteten Mont Ventoux könnte es eine Vorentscheidung geben.
  • Die Topfahrer um Christopher Froome und Nairo Quintana müssen sich zeigen.

Von Johannes Aumüller, Mont Ventoux

Mitten im Geröll befindet sich das Mahnmal, am Ende einer leichten Rechtskurve kurz vorm Gipfel, und selbst wer in einem gemächlicheren Tempo als der Tour-Tross die letzten Kilometer des furchterregenden Mont Ventoux bewältigt, kann es leicht übersehen. Ein gutes Dutzend Stufen führt hinauf, oben steht eine graue Gedenktafel, die Silhouette eines Radfahrers ist darauf zu sehen, in goldener Farbe der Name "Tom Simpson". Viele Trinkflaschen und sonstige Radler-Utensilien sind um die Gedenkstätte herum abgelegt worden, so will es ein alter Brauch der Hobbyfahrer, die sich alltäglich in Tausenden diese elende Straße emporquälen.

Am Donnerstag kommt die Tour de France wieder am Mont Ventoux vorbei, am französischen Nationalfeiertag, das haben die Streckenplaner so gewollt. Er steht zwar erst zum 16. Mal im Programm, aber er gehört längst zu den Heiligtümern der Rundfahrt, neben dem rauen Tourmalet, dem erhabenen Galibier, den Party-Kehren von Alpe d'Huez. Es wird eine ungewöhnliche Fahrt auf den Berg mit der kahlen Kuppe, weil die Organisatoren am Mittwochabend entschieden, das Ziel der Etappe wegen des starken Windes um sechs Kilometer vorzuverlegen. Aber es soll trotzdem wieder ein großes Renn-Fest werden, und es ist die Frage, wie sehr beim Wunsch nach Attacken und Dramen das Mahnmal auch wirklich als Mahnmal dient.

Windgeschwindigkeiten von mehr als 100 Stundenkilometern erwartet

13. Juli 1967, der Ventoux ist eine Zwischenstation, das Ziel liegt im Tal. Es ist irre heiß, 42 Grad, der Asphalt misst sogar 54 Grad. Am Ende wird der Spanier Julio Jimenez gewinnen, aber das spielt keine Rolle. In der Hitze des Tages fährt der Brite Tom Simpson in Schlangenlinien den Berg hinauf, dehydriert, fällt vom Rad, Zuschauer helfen ihm wieder auf. Simpson fährt weiter, kippt wieder um, ein Doktor behandelt ihn - vergeblich. Ein Radfahrer von gerade mal 29 Jahren, hoch veranlagt, Weltmeister, Klassikerjäger, verstirbt an einem Cocktail aus Alkohol und Amphetaminen, selbst in seiner Tasche finden sich noch Tabletten. Seine angeblich letzten Worte: "Setzt mich wieder auf das Rad."

Es ist der Tag, der wie kein zweiter die möglichen Konsequenzen des ewigen Dopingmissbrauchs klarmacht. Ein Jahr danach schrieb der damalige Rennchef Jacques Goddet im Tour-Organ L'Équipe: "Lieber Tom Simpson. Du starbst nicht umsonst. Doping ist keine mysteriöse Krankheit mehr, versteckt, unkontrollierbar. Die Fahrer scheinen allgemein entschlossen, sich von dieser Geißel zu lösen."

Welch Irrtum. Erst intensivierte das Peloton den Amphetamin-Missbrauch, irgendwann kam der Blutdoping-Klassiker Epo, dann die Transfusionen, mal Fremd-, mal Eigenblut, und heute? In den vergangenen drei Jahren gab es bei der Tour nur einen Positivtest, Kokain beim Italiener Luca Paolini 2015, aber wer glaubt, dass es richtig sauber zugeht? Es gibt eine Vielzahl an Methoden und Substanzen, die kein Kontrolllabor der Welt entdecken kann.

"Allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen", habe er den Berg erklommen, schrieb einmal ein berühmter Italiener über den Ventoux; das war der Nationaldichter Petrarca 1336. Unter den Radrennfahrern ist bei einem Aufstieg gemeinhin niemand beseelt. Normalerweise ist der Weg 15,7 Kilometer lang, bis auf 1912 Meter Höhe und bei 8,8 Prozent mittlerer Steigung. Diesmal ist schon sechs Kilometer früher Schluss, auf 1435 Meter Höhe am Chalet Reynard. Die Wetterdienste rechnen für den Gipfel mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 100 Stundenkilometern - das ist zu viel und zugefährlich für die Fahrer.

Ein schnelles, hartes Finale steht zu erwarten

Deshalb sehen die Sportler zwar aus der Ferne die Gemeinheiten, die dieser so majestätisch aus der Provence-Ebene herausragende Berg auf den letzten fünf Kilometern bereithält, aber kommen ausnahmsweise um diese herum. Um den lähmenden Anblick, wenn die Bäume das Wachsen aufgeben und das Auge nur noch graues Geröll sieht und den hässlichen weißen Turm der Wetterstation mit der rot-weißen Antenne auf dem Gipfel. Um die Hitze, die dort oben wie bei Simpson 1967 den Parcours in einen Backofen verwandeln kann. Und vor allem um den Wind, der so stark, fies und eisig sein kann und vor dem kein Strauch schützt.

Gerade diese Kilometer sind es, die schon vor und auch nach Simpsons Tod ein Kompendium der Ventoux-Qualen geschrieben haben. 1955 verlor dort der vollgepumpte Jean Malléjac das Bewusstsein, lang kämpften die Ärzte um sein Leben. Für Ferdy Kübler war im selben Jahr ein Ventoux-Ritt quasi gleichbedeutend mit dem Karriereende. Eddy Merckx musste 1970 nach dem Aufstieg erst mal zur Sauerstoff-Behandlung. Und Tony Martin war 2009 so entkräftet, dass er die Flamme Rouge nicht wahrnahm, den Hinweis auf den letzten Kilometer - sonst hätte er vielleicht gewonnen, so wurde es Platz zwei. Aber auch in der verkürzten Form kann es zu vielen schmerzverzerrten Fratzen kommen.

Ein schnelles, hartes Finale steht zu erwarten, das liegt auch am bisherigen Verlauf der Tour. Mehr als die Hälfte ist schon vorbei, aber im Gesamtklassement noch alles offen. Christopher Froome (Sky) führt vor seinem wohl ärgsten Rivalen Nairo Quintana (Movistar) nur 35 Sekunden - herausgeholt mit einem kühnen Abfahrtsmanöver in den Pyrenäen und einer überraschenden Attacke auf der windanfälligen Mittwoch-Etappe nach Montpellier, als er gemeinsam mit drei anderen Fahrern zehn Kilometer vor dem Ziel ausriss und hinter Peter Sagan (Slowakei) auf Platz zwei kam. Elf Pedaleure liegen binnen 1:35 Minuten. So eine Konstellation hat es zu diesem Zeitpunkt der Tour lange nicht mehr gegeben. Am Ventoux wollen sich, am Ventoux müssen sich die Top-Fahrer zeigen.

Dabei ist der Berg des Gerölls, der Hitze und des Windes bisher nicht der Berg für Klassement-Revolutionen. Außer bei zwei Bergzeitfahren wechselte nach einer Ventoux-Etappe nie die Gesamtführung. Wer in Gelb den Berg anfuhr, bekam das Trikot auf dem Gipfel wieder über - oft mit ausgebautem Vorsprung, so wie Merckx 1970, Armstrong 2000 und 2002, Froome 2013.

Die Verkürzung der Strecke bringt auch die kritischen Geister der Szene um ein interessantes Spiel. Normalerweise schauen sie bei markanten Anstiegen wie dem Ventoux gerne, wie schnell die Besten des Pelotons den Berg hinaufrasen - und setzen das dann in Relation zu den Zeiten der nachweislich gedopten Akteure von früher. Das fällt nun aus, Argwohn können die Leistungen gleichwohl erwecken. Die Gedenkstätte jedenfalls wird am Donnerstag kein Fahrer und kaum ein Fan wahrnehmen. Sie liegt in jenem oberen Teil der Strecke, den das Peloton wegen der Verkürzung nicht absolvieren muss.

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