Tottenham Hotspur:54 Jahre Dürre

Tottenham Hotspur FC v RSC Anderlecht - UEFA Europa League

Stammspieler mit 19: Delle Alli hat sich seinen Platz bei Tottenham erspielt.

(Foto: Getty Images)

Die Spurs träumen davon, Arsenal hinter sich zu lassen. In dieser Saison dürfte das schwer werden. Im Derby am Sonntag möchten sie den Rivalen zumindest ärgern.

Von Sven Haist, London

Vor gut siebeneinhalb Jahren lief der argentinische Fußballtrainer Mauricio Pochettino zu Fuß ins Benediktinerkloster Montserrat. Sein Klub Espanyol Barcelona blickte zehn Spieltage vor Saisonende in den Schlund der Zweitklassigkeit. Acht Punkte trennten den Tabellenletzten von einem Nichtabstiegsplatz. Pochettino befand, dass in dieser Situation nur ein Wunder helfen könnte. Vor dem Abbild einer Schwarzen Madonna in der Nähe Barcelonas bat er also um spirituellen Beistand - und wurde erhört. Espanyol überlebte in der spanischen Primera Division am Ende auf dem gesicherten zehnten Rang.

Ein ähnliches Niveau an göttlicher Unterstützung benötigt Pochettino, 43, um seinen aktuellen Arbeitgeber Tottenham Hotspur einmal dorthin zu führen, wo die Fans ihren Verein am Saisonende in der Tabelle so sehnsüchtig erwarten: vor dem ungeliebten Rivalen FC Arsenal. Zuletzt gelang das Gerry Francis 1995. Seitdem arbeiteten sich zwölf Trainer bei den Spurs vergeblich ab an diesem Minimalziel. Von einem englischen Meistertitel wagt bei Tottenham sowieso keiner mehr zu reden angesichts einer 54 Jahre anhaltenden Dürreperiode. Daher heißt einer der Schmähgesänge von Arsenal-Fans: "Ihr habt die Liga in schwarz und weiß gewonnen."

Hausgemachte Talente wie Harry Kane und Delle Alli

Am Sonntag (17 Uhr) werden diese wieder zu hören sein, weil Tottenham zum 177. rot-weißen Nord-London-Klassiker beim FC Arsenal gastiert. Mit 20 Zählern haben die Schneeweißen das Punktekontingent im Vergleich zum selben Zeitpunkt der Vorsaison reichlich aufgestockt und liegen nur fünf Punkte hinter den Gunners. Nach der Auftaktniederlage bei Manchester United blieb das Team von Pochettino zehnmal hintereinander ungeschlagen. Der Bonus für die Fans: Der Erfolg basiert auf Talenten, die vorzugsweise die eigene Akademie entsandt hat. Nach Harry Kane, Nabil Bentaleb und Ryan Mason hat nun Delle Alli, 19, das Licht der Premier League erblickt. Ihn hatten Tottenhams Nachwuchsspäher in der dritten Spielklasse ausgegraben.

Alli hat sich binnen weniger Wochen im defensiven Mittelfeld an der Seite von Eric Dier festgespielt, weil die etatmäßigen Stammkräfte Bentaleb und Mason ausfielen. Gerade mal drei U21-Spieler kamen in der Liga bislang häufiger zum Einsatz als Alli. Insgesamt tummeln sich zehn Engländer im Kader der Spurs; vier davon dürfen sich ab Montag bei Trainer Roy Hodgson in der Nationalmannschaft in Szene präsentieren. Kein Verein stellt derzeit mehr britische Spieler ab, und bei keinem Team ist das Durchschnittsalter so niedrig wie bei Tottenham. Torwart Hugo Lloris ist schon im Alter von 28 Jahren die erfahrenste Stammkraft.

Wenn's bei den jungen Spielern läuft, sind sie kaum zu stoppen

Erst kürzlich stürzte die Jungherde mit 4:1 über den Tabellenführer Manchester City her. An solchen Tagen lenkt der international erprobte Lloris die Abwehr, die im Zentrum aus den belgischen Nationalspielern Jan Vertonghen und Toby Alderweireld besteht. Sie hatten schon einst bei Ajax Amsterdam das Gerüst der Viererkette gebildet. Mit Rechtsverteidiger Kyle Walker liefen sie in allen Ligabegegnungen von Beginn an auf. Weiter vorne vermischen sich die Talente des Freistoßspezialisten Christian Eriksen mit denen von Erik Lamela, Mousa Dembele, Nacer Chadli oder Heung-Min Son so fließend, dass die jeweils entstehenden Angriffskreationen aufgrund der Geschwindigkeit und Vielfalt kaum zu verteidigen sind. Als Sturmspitze besitzt Tottenham mit Kane den besten Torschützen des Kalenderjahres auf der Insel.

Das Team sieht aus wie ein Portrait ihres Schöpfers: jung, fleißig, erfolgshungrig. In naher Zukunft könnten Trainer und Spieler zu den gefragtesten Fachkräften aufsteigen, aber genauso rasch könnte ihr Potential verschütt gehen in der schnelllebigen Fußballbranche. "Es ist unmöglich, ein Limit zu setzen", sagt Pochettino zu möglichen Saisonzielen: "Warum sollten wir auch?" Im Ligapokalfinale schnupperte Tottenham gegen den FC Chelsea im Frühjahr an einem Titel. Das Problem jedoch bei jungen Spielern ist der konstante Leistungsnachweis und der Kräfteverschleiß. Der laufintensive Verteidigungsstil bei Ballverlust funktioniert nur bei vollständiger körperlicher Fitness. Gerade zur Weihnachtszeit, wenn in der Premier League die Hochphase anbricht, könnte die Leistungskurve nach unten gehen. Schließlich dürfte Tottenham auch als Gruppenerster nach vier Spieltagen in der Europa League die nächste Runde erreichen. Der Spielplan bietet dann kaum mehr Erholungsphasen.

Drei Klubs schielen auf den vierten Platz

Deswegen herrscht noch Unschlüssigkeit über die wahre Leistungsstärke des Teams an der Lane. Aber nach dem sportlichen Absturz des FC Chelsea ist in der Premier League ein nahezu fest vergebener Platz im Quartett an der Tabellenspitze frei geworden. Ein Krümel, auf den es besonders drei Vereine abgesehen haben: der FC Liverpool mit Jürgen Klopp, Pochettinos früherer Klub FC Southampton und eben Tottenham. Immerhin garantiert Rang vier die Teilnahme zur Champions League Qualifikationsrunde.

Dort feierten die Tottenham Hotspur die letzte berauschende Nacht in der Spielzeit 2010/2011. Aus dieser Saison stammt zudem der einzige Auswärtssieg beim FC Arsenal in den vergangenen 22 Versuchen. Mit solch entmutigenden Statistiken kennt sich Mauricio Pochettino noch aus Spanien aus. Mit 2:1 schlug er im Februar 2009 den FC Barcelona, als dieser von Pep Guardiola trainiert wurde. Es war nach 27 Jahren der erste Sieg von Espanyol im Camp Nou.

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