Torwart Marc-André ter Stegen:Thronfolger eines Königs, der nicht abdankt

  • Jahrelang duellierte sich Marc-André ter Stegen mit Bernd Leno. Beim Confed Cup hat er sich nun endgültig gegen den Konkurrenten durchgesetzt.
  • Doch an einem kommt er in der Nationalmannschaft nicht vorbei: Manuel Neuer.

Von Martin Schneider, Sotschi

Zu den wunderbaren Eigenarten des Fußballs gehört es, dass er oft Streitthemen liefert, die gleichzeitig unfassbar interessant und unfassbar belanglos sind. Das Gegentor der Deutschen gegen Kamerun zum Beispiel. War das nun ein Fehler von Marc-André ter Stegen? Oder nicht? Er sah schon ziemlich unglücklich aus, wie er da stand, die Arme nach vorne gestreckt, als wolle er Luft fangen während der Ball über seine Fingerspitzen und seinem verdutzten Blick folgend ins Tor fiel. Andererseits: Die Flanke kam scharf aufs Tor, aus kürzester Distanz brachte der Kameruner Vincent Aboubakar noch seinen Kopf dazwischen und fälschte den Ball ab. Hätte nicht eher Niklas Süle das verhindern müssen? Marc-André ter Stegen sagte: "Ich weiß, wann ich einen Fehler gemacht habe", und meinte damit: hier nicht. Torwarttrainer Andreas Köpke meinte: "Aus so einer Nahdistanz kann man natürlich die Arme noch hochreißen, aber ich sehe nicht, dass er den unbedingt halten musste."

Wer sich für Feinheiten des Torwartspiels interessiert, der kann sich die Szene auf Video angucken, vor- und zurückspulen und entscheiden, ob ter Stegen eine bessere Handlungsoption gehabt hätte, aber - wie gesagt - von Belang war das nicht. Den entscheidenden Satz sagte Bundestrainer Joachim Löw auf der Pressekonferenz nach dem Spiel: "Ja, jetzt haben wir uns schon auch für dieses Turnier entschieden, mit Marc ter Stegen auch die beiden anderen Spiele zu machen."

Den Zweikampf Bernd Leno gegen Marc-André ter Stegen kann man also erst einmal guten Gewissens im dicken Aktenordner mit der Aufschrift "Deutsche Torhüterduelle" abheften. Zwei begabte Torhüter, beide im Frühjahr 1992 geboren, beide mit dem Körperbau antiker Helden, beide der Meinung, der bessere zu sein. Ter Stegen beschrieb ihr Verhältnis mal als "unterkühlt", Leno nannte seinen Konkurrenten mal "den anderen". Seit geraumer Zeit sprechen beide nur noch in Diplomatendeutsch übereinander. Das war eine schöne Story, die man erzählen konnte, und die deswegen überhaupt am Leben gehalten werden konnte, weil ter Stegen in seinen ersten Nationalmannschaftsspielen patzte.

In Wahrheit ist die Pro-ter-Stegen-Doktrin des Bundestrainers nur der finale Akt eines Zweikampfes, der schon lange auf ein Ergebnis zulief. Ter Stegen, dem ein nahezu kahnscher Ehrgeiz nachgesagt wird, stand in den entscheidenden Turnieren immer im Tor. Beim EM-Titel der U17 2009 spielte er, bei der U21 setzte Horst Hrubesch in den wichtigen Spielen auf ihn, als die Nationalmannschaft 2014 nach Brasilien abhob, sagte Löw zu ter Stegen, er solle sich bereithalten, falls die Schulter von Manuel Neuer doch nicht hält.

Ter Stegen hat sich zudem als Torhüter des FC Barcelona durchgesetzt - lange Zeit in einem nervlich zermürbenden Zweikampf gegen seinen direkten Konkurrenten Claudio Bravo. Beim Clásico, dem wichtigsten Ligaspiel der Welt, hielt er herausragend. In der Champions League holte er beim unglaublichen 6:1 im Achtelfinal-Rückspiel gegen Paris Saint-Germain den entscheidenden Freistoß an der Mittellinie raus - als Torhüter.

Überhaupt merkt man auch in diesen Tagen beim Confed Cup in den Spielen gegen Chile und Kamerun, dass er normalerweise mit Lionel Messi und Andrés Iniesta trainiert. Mit dem Ball am Fuß spielt er mindestens eine Klasse über Leno oder Kevin Trapp. Gerät die Mannschaft unter Druck, ist ter Stegen eine zusätzliche Anspielstation und zwingt den Gegner dazu, im Pressing noch weitere Wege zu gehen. Chile war zum Beispiel gegen Ende des Spiels auch deswegen platt, weil sie zu Beginn der Partie immer bis zum Torwart sprinten mussten.

Wenn der 25-Jährige den Ball bekommt, bolzt er ihn nicht raus, sondern wägt ab: Spiele ich auf die Außenverteidiger? Kann ich den gefährlichen Pass durch die Mitte riskieren? Er wechselt in Gedanken zwischen Torhüter- und Feldspieler-Rolle. Ist Deutschland selbst im Angriff, steht er zehn Meter weiter vorne als andere Torhüter. Auch wenn er auf diese Art schon 50-Meter-Weitschuss-Tore kassiert hat, er ist von der Spielweise überzeugt und zieht sie in aller Konsequenz durch. Bundestorwarttrainer Andreas Köpke weiß das zu schätzen. Schon vor drei Jahren sagte er: "Marc ist ein offensiver, mitspielender Torwart. Von all unseren tollen Torhütern ist er derjenige, der unserer Philosophie in der Nationalelf am nächsten kommt."

Das trommelnde und schreiende ABER in diesem Satz und an ter Stegens gesamter Situation in der Nationalmannschaft ist allerdings: mit Ausnahme von Manuel Neuer. Solange Neuer fit ist, führt kein Weg am Ausnahmewächter vorbei. Und Neuer ist fieserweise auch erst 31 Jahre alt. Die WM in Russland wird er spielen, die folgende EM wahrscheinlich auch noch.

Ter Stegen ist nun erster in der Erbfolge, allerdings am Hof eines Königs, der sich die Krone nur selbst vom Kopf nehmen kann. Aber dass er nun offiziell der Thronfolger ist, das ist keine kleine Leistung.

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