Toni Kroos im WM-Halbfinale:Greifvogel in seinem Revier

Germany's Toni Kroos celebrates after scoring his second goal during the 2014 World Cup semi-finals between Brazil and Germany at the Mineirao stadium

Und aus dem Knäuel flitzt Toni Kroos heraus: Auch beim Jubeln war der Münchner diesmal der zentrale Mann.

(Foto: REUTERS)

Der beste Spieler beim deutschen Triumph über Brasilien? Eindeutig Toni Kroos. Mit seiner Präsenz, seinen klugen Ideen und seinem neu entdeckten Biss spielt der Münchner die Brasilianer alleine schwindelig. Bei Real Madrid können sie sich freuen.

Von Thomas Hummel, Belo Horizonte

Der Moment, in dem aus Toni Kroos ein Habicht wurde, könnte bald in die glanzvollsten Kapitel der deutschen Fußball-Historie eingehen. Es liefen diese für Brasilien so vermaledeiten Minuten in der ersten Halbzeit. Fernandinho, im richtigen Leben Mittelfeldspieler von Manchester City, nun aber im Zustand eines konfusen Socca5-Freizeitkickers, hatte den Ball und wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Da pirschte sich von hinten Toni Kroos heran. Plötzlich streckte der 24-Jährige den Kopf nach vorne, der Rücken krümmte sich ein wenig, Kroos kam geflogen.

Sekunden später hing Fernandinho im Tornetz, hätte sich am liebsten darin eingewickelt und in einem geschlossenen Wagen abtransportieren lassen. Kroos hatte ihm den Ball geklaut, ganz einfach, im Vorbeilaufen quasi. Der Münchner hatte mit Sami Khedira noch einen Doppelpass gespielt, der die Brasilianer endgültig in die Irre leitete. Und hatte mit der Innenseite flach ins Tor geschossen. Das war das 4:0.

Sollte der deutsche Mittelfeldspieler diese Greifvogelmentalität am Sonntag nach Rio de Janeiro mitbringen, dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass der Deutsche Fußball-Bund zum vierten Mal eine Weltmeister-Mannschaft sein Eigen nennen kann. Er alleine wird das Finale dieser WM natürlich nicht gewinnen. Doch ein Toni Kroos in der Form vom Dienstagabend in Belo Horizonte hilft erheblich.

"Er ist immer anspielbar. Die Dinge, die er macht, haben Hand und Fuß. Im Moment hat er eine sehr gute Form", sagte Bundestrainer Joachim Löw. Toni Kroos sei schon in den vergangenen zwei Länderspieljahren nach der EM ein Spieler gewesen, der dem Team viele Impulse gebe - einer, der dem Team im fußballerischen Bereich enorm weiterhelfe.

7:1 hat Deutschland gegen Brasilien gewonnen. Monströse Zahlen für ein Halbfinale einer WM. Historisch betrachtet. Zum besten Spieler des Abends wurde anschließend Toni Kroos gewählt, was eine nicht minder monströse Nachricht ist. Historisch betrachtet.

Kroos hat länger benötigt, um in der Nationalmannschaft anzukommen, als er selbst erwartet hatte. Er galt ja einst als selten dagewesenes Talent. Die Pässe kamen immer schon zentimetergenau, der Blick für den Raum durchleuchtete das Feld, der Schuss mit beiden Beinen war gewaltig. Doch im Champions-League-Finale zu Hause gegen Chelsea verweigerte er sich beim Elfmeterschießen. Im Halbfinale der EM gegen Italien führte ihn Andrea Pirlo vor. Er stand auf dem Platz beim kuriosen 4:4 nach 4:0-Führung gegen Schweden. Und zuletzt auch wieder beim 0:4 der Bayern gegen Real Madrid.

Toni Kroos musste mit dem Verdacht leben, im entscheidenden Moment nicht mehr anwesend zu sein. Er kann alles, doch wenn es darauf ankommt, fehlt ihm Widerstandskraft und Wettkampfhärte - so der Vorwurf. Beim FC Bayern sind sie bis heute nicht restlos überzeugt von ihrem Profi. Als der in die obere Gehaltsklasse vordringen wollte, machte der Klub einen Rückzieher. Nun wechselt Kroos aller Voraussicht nach zu Real. Die Spanier werden sich gerade ziemlich freuen über dieses Geschäft.

Alle Zweifel über Bord

Denn Toni Kroos hat in Brasilien alle Zweifel ins Meer geworfen. War er bei der WM in Südafrika und der EM in Polen und der Ukraine noch der Streichkandidat hinter Sami Khedira, Bastian Schweinsteiger und Mesut Özil, ist er nun die bestimmende, die konstante Turnier-Figur im deutschen Mittelfeld. Özil musste für Kroos von seiner geliebten Position in der Zentrale auf rechts wechseln.

Als anfangs die lange verletzten Khedira und Schweinsteiger ihre Arbeitszeit teilten, regelte Kroos über die gesamte Spielzeit den Verkehr. Er übernahm vom verletzten Marco Reus die Aufgabe, die Standardsituationen auszuführen. Und trägt damit zur größten Verblüffung dieser WM bei. Die Deutschen machen plötzlich Tore nach Ecken und Freistößen. Das gab es seit Jahren nicht mehr.

Auch gegen Brasilien nahm das Toreschießen in einem Eckball seinen Ursprung. Alle Mann nach vorne, die Brasilianer alle hinterher, und hinten wartet Thomas Müller. Kroos zielte haargenau dorthin, Müller verwandelte nach elf Minuten sicher. Schon gegen Portugal, Ghana, die USA und Frankreich hatten Ecken und Freistöße von Kroos zu Treffern geführt. Doch in Belo Horizonte beließ es der Noch-Münchner nicht dabei.

Die Brasilianer boten ihm und seinen Nebenleuten viel Platz im Mittelfeld an. Bei Ballverlust verweigerten sich vier, manchmal fünf Spieler der Defensivarbeit, was bei den Deutschen zu einer solch fulminanten Spielfreude führte, dass die Welt staunte. Mittendrin fast immer: Kroos. Vor dem 2:0 hätte er noch fast den Ball verstolpert, spielte dann aber einen schlauen Pass in den Strafraum, wo Müller und Miroslav Klose vollendeten. Das 3:0 erzielte er per schicker Direktabnahme mit links. Das 4:0 nach Habicht-Attacke gegen Fernandinho. Den Rest schaute er sich von der Ferne an.

"Ich bin gut drauf, bin fit. Dann kann ich solche Leistungen bringen", erklärte er. Auch nach der Pause machte er den Eindruck, sich notfalls mit der ganzen brasilianischen Mannschaft anlegen zu können. Aus dem Knäuel wäre dann ziemlich sicher Toni Kroos mit dem Ball am Fuß herausgelaufen. Wenn er seine öffnenden Pässe spielte, reagierten die Brasilianer teilweise so verwirrt, dass sie wie ein konfuser Fliegenschwarm über den Platz waberten. Er stellte dem Gegner Aufgaben, die diesen völlig überforderten.

Vor einigen Jahren noch, da hätte sich Toni Kroos vermutlich mit der Auszeichnung Mann des Spiels zufriedengegeben. Ist ja auch was, in einem WM-Halbfinale. Doch der Junge aus Greifswald ist erwachsen geworden. Er stimmte nach diesem 7:1 ein in den Chor der Warner und Mahner.

Nur ja nicht zu begeistert sein von sich selbst, das führt zum Spannungsverlust und am Ende zur sicheren Niederlage im Maracanã. "Mein Gefühl sagt mir, dass das gar kein Problem ist. Die Stimmung in der Kabine war glücklich, aber nicht euphorisch", berichtete er. Die Mannschaft sei mit dem Ziel nach Brasilien gekommen, Weltmeister zu werden. "Und das sind wir noch nicht. Es wird noch ein sehr schwieriger Schritt. Wir haben unser Ziel noch nicht erreicht." Der Habicht hat es aber bereits ins Visier genommen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: