Tischtennis-WM: Timo Boll:Wie Hase und Igel

Timo Boll ist einer der besten Tischtennisspieler der Welt, seinem Traum vom WM-Titel stand bislang immer ein Chinese im Weg. In diesem Jahr in Rotterdam soll es endlich klappen.

Ulrich Hartmann

Timo Boll kennt sie alle. Man kann ihm nacheinander ihre so ähnlichen Fotos hinblättern und bei jedem fragen: "Und der?" Boll weiß über jeden sofort etwas zu erzählen. Über Wang Hao mit dem leichten Übergewicht, "weil er gerne isst", über Ma Lin, den vielleicht "talentiertesten Spieler überhaupt", über Ma Long, der ein bisschen Englisch spricht und mit dem er schon Billard gespielt hat, oder über Wang Liqin, der noch im Kraftraum ächzt, wenn alle anderen längst in der Sauna schwitzen. Boll kennt ihre Spielweisen, ihre Schläger, ihre Marotten, er weiß, mit wem man plaudern kann und wer mal einen Witz macht.

Timo Boll

Timo Boll beim Champions-League-Spiel mit Borussia Düsseldorf gegen SVS Niederösterreich. Europameister Boll möchte die erste WM-Einzelmedaille seiner Karriere gewinnen.

(Foto: dpa)

Der Weltranglistenzweite Timo Boll, 30, lernt die chinesische Sprache am Düsseldorfer Konfuzius-Institut, das chinesische Tischtennis lernt er durch das permanente Studieren seiner Kontrahenten.

Von diesem Dienstag an wird sich in einem Rotterdamer Sportcenter namens "Ahoy" zeigen, wie nahe der 30-Jährige aus dem Odenwald den besten Spielern der Welt aus China bereits gekommen ist. Boll, der schon vier Mal Einzel- Europameister geworden ist, will jetzt auch seine erste Medaille bei einer Einzel-Weltmeisterschaft gewinnen.

Würde man die Fotos der chinesischen Spieler mit einem Computerprogramm übereinander blenden, bekäme man ein Gesicht, das dem unbedarften Mitteleuropäer wenig verriete. Boll würde darin etliche Details entdecken: die hervortretenden Augen von Wang Hao, die Fransenfrisur von Zhang Jike, die breite Nase von Ma Lin oder das Autoverkäuferlächeln von Wang Liqin.

Müsste Boll gegen diesen virtuellen Supermann antreten, wäre er machtlos. Der computergenerierte Goliath hätte die beste Vorhand der Welt von Ma Long, die beste Rückhand von Wang Hao, den besten Aufschlag von Chen Qi, das größte Rotations- Repertoire von Ma Lin, die mindestens paranormale Antizipation von Xu Xin und die sensationelle Athletik von Zhang Jike. Boll würde verzweifeln.

Zum Glück gibt es diesen einen unbesiegbaren virtuellen Kontrahenten nicht. Stattdessen gibt es bei der WM gleich sieben reale chinesische Supermänner. Gegen jeden einzelnen hat Boll zwar eine gewisse Siegchance, aber ob seine Kräfte ausreichen werden, im K.o.-System mehrere zu bezwingen? Und ganz am Ende auch den einen, der diesmal in außerirdischer Form ist? Es wird hart. Boll sagt über seinen Versuch, gegen die Übermacht der Chinesen vielleicht sogar als erster Deutscher Weltmeister zu werden: "Wenn ich mich schon vorher nur auf die Chinesen konzentriere, bin ich draußen, ehe ich sie treffe."

Tischtennis gegen die chinesische Elite ist wie das Wettrennen zwischen dem Hasen und dem Igel. Wenn Boll in einem Turnierverlauf Chinesen besiegt, ist ganz am Ende immer noch mindestens einer übrig. Boll hat das zuletzt häufiger so erlebt. Spätestens im Turnierfinale war er meist chancenlos. Gäbe es diesen einen überirdisch starken Chinesen aus dem Computer, könnte Boll wenigstens dann gewinnen, wenn dieser mal erkältet oder traurig wäre.

Gedanken an die erste Runde

Von den sieben Chinesen jedoch, mit denen Boll die vordere Weltrangliste dominiert, ist immer ein anderer gerade besser. "Es gibt eigentlich keinen, den ich nicht besiegen kann, aber es sind so viele und einer von ihnen ist immer in Bestform." Noch nie gewonnen hat er bislang bloß gegen Xu Xin. Der 21- Jährige bildet mit Ma Long, 22, und Zhang Jike, 23, die neue Generation. Sie sind ähnlich stark wie die älteren Wang Hao, 27, Ma Lin, 31, und Wang Liqin, 32, aber nicht so konstant.

Es ist fast unmöglich zu prognostizieren, welche Chinesen in Rotterdam die stärksten sein werden. Laut Weltrangliste müssten es Wang Hao (Nummer 1 und Weltmeister 2009), Zhang Jike (3), und Ma Lin (4) sein. In einem nach Setzliste verlaufenden Turnier würden sich im Halbfinale Wang Hao und Ma Lin sowie Boll und Zhang Jike gegenüberstehen.

Wenn Boll Glück hat, wird er bis zum Halbfinale auf keinen Chinesen treffen. Doch ein Selbstläufer wäre eine Medaille - die erste für einen Deutschen seit Eberhard Schöler 1969 - auch dann nicht. In der zweiten Runde droht am Mittwoch ein Duell mit dem starken Yang Zi aus Singapur, im Achtelfinale am Freitag ein Aufeinandertreffen mit seinem Nationalmannschaftskollegen Dimitrij Ovtcharov und im Viertelfinale am Samstag eines mit dem Russen Wladimir Samsonow. Nur falls Samsonow sich im Achtelfinale nicht durchsetzt, würde Boll wohl bereits im Viertelfinale mit Cheng Qi auf einen Chinesen treffen.

Boll verzichtet sogar auf das Doppel, um sich ausschließlich aufs Einzel zu konzentrieren. "Diese Spiele auf höchstem Niveau kosten Kraft, und ich will das Risiko, im Doppel ein oder zwei Prozent liegen zu lassen, nicht eingehen." Boll hat eine gute Vorbereitung hinter sich und ist frei von Beschwerden.

Er hat zuletzt gegen Zhang Jike, Chen Qi und zwei Mal gegen Ma Lin gewonnen. Aber er hat gegen Wang Hao, Ma Long, Xu Xin und Zhang Jike auch klare Niederlage kassiert. Boll startet in dem Wissen, dass vieles möglich ist, aber dass er sich auch nicht verrückt machen darf. Vor seiner wichtigsten WM bleibt er stoisch. "Zunächst einmal", sagt er lakonisch, "muss ich die erste Runde überstehen."

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