Tischtennis:Bolls Parforceritte

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4:0 für Timo Boll: Der Europameister bezwang Teamkollege Dimitrij Ovtcharov in Paris zum vierten Mal in diesem Jahr. (Foto: Ye Pingfan/Xinhua/Imago)

Der deutsche Profi besiegt beim World Cup Welt- sowie Asienmeister - muss den Triumph beim World Cup aber einem Kollegen überlassen.

Von Ulrich Hartmann, Lüttich/Düsseldorf

Timo Boll hat in seiner zwei Jahrzehnte dauernden Karriere drei Olympia-, fünf Weltmeisterschafts- und 19 Europameisterschafts-Medaillen gewonnen, er war mehrmals die Nummer eins der Weltrangliste und bleibt vielleicht auf ewig Deutschlands bester Tischtennis-Spieler. Einige seiner euphorischsten Momente aber hat er in einer unscheinbaren Veranstaltungshalle namens Country Hall in der belgischen Stadt Lüttich erlebt. Im Oktober 2005 hat er hier mit 24 Jahren in einem Parforceritt den World Cup gewonnen und dabei binnen 24 Stunden die chinesischen Spitzenspieler Wang Liqin, Ma Lin und Wang Hao gedemütigt.

Zwölf Jahre später ist Boll ein solches Kunststück am Wochenende noch einmal gelungen, mit dem feinen Unterschied, dass er im Endspiel nicht auch noch auf einen dritten chinesischen Topmann getroffen ist, sondern auf seinen deutschen Nationalmannschaftskollegen Dimitrij Ovtcharov - und dass er, nun ja, dieses Finale außerdem 2:4 nach Sätzen (12:10, 8:11, 7:11, 11:9, 7:11, 2:11) verloren hat.

Im Finale holt sich Ovtcharov als dritter Deutscher den Titel

Fürs deutsche Tischtennis war das Wochenende trotzdem ein historischer Triumph. Erstmals standen im World Cup als dem hochkarätigst besetzten Wettbewerb nach Olympia und WM zwei Deutsche im Endspiel: Boll zum fünften Mal, Ovtcharov zum ersten Mal. Nie zuvor ist es in einem der zahlreichen Duelle der beiden Freunde um derart viel Geld gegangen, nämlich um 45 000 US-Dollar für den Sieger und 25 000 für den Unterlegenen. Das gab dem Match eine besondere Würze. Normalerweise trainieren die beiden friedlich miteinander im Deutschen Tischtennis-Zentrum in Düsseldorf.

Als Vierter und Fünfter der Weltrangliste begegneten sich Ovtcharov und Boll. Noch nie haben gleich zwei deutsche Spieler in den Top Fünf gestanden. Ausgerechnet im nach-olympischen Jahr erreichen beide in diesem Herbst einen Höhepunkt ihres Schaffens - und das auf ebenbürtigem Niveau. Aber Ovtcharov, 29, der gebürtige Ukrainer, der für den russischen Klub Fakel Orenburg spielt und in Lüttich auf dem Weg ins Finale keinen Chinesen ausschalten musste, war am Sonntag trotzdem den entscheidenden Tick stärker. Nach seinen vorangegangenen 4:3-Krimis gegen den Russen Alexander Schibajew und den Franzosen Simon Gauzy war er nervlich ebenfalls bestens gewappnet. Zum vierten Mal nach Jörg Roßkopf (1998) und Boll (2002 und 2005) gewann ein deutscher Spieler den World Cup.

Die in der Tischtenniswelt erheblich mehr Aufsehen erregenden Glanzleistungen aber waren bereits vor diesem Finale Bolls Triumphe im Viertelfinale über den Weltranglisten-Neunten und Asienmeister Lin Gaoyuan sowie im Halbfinale über den Weltranglisten-Ersten, Weltmeister und Olympiasieger Ma Long gewesen. In beiden Matches hatte Boll bereits mit 1:3 Sätzen zurückgelegen. Gegen Gaoyuan musste er acht Machtbälle abwehren, um nach 76 Minuten doch noch mit 13:11 in jenem siebten Satz zu triumphieren, in dem er schon 4:10 hinten gelegen hatte. Gegen Ma Long am Sonntagmittag machte er es nicht weniger spannend. Nach einem 1:3-Satzrückstand siegte er in 74 Minuten mit 12:10 im siebten Satz. Zugleich löste er traumatische Erinnerungen bei Wang Hao aus, der zwölf Jahre zuvor in derselben Halle das Endspiel gegen Boll verloren hatte und diesmal als chinesischer Nationaltrainer hinter der Bande saß. Hao vermochte Ma Long das selbe Schicksal aber nicht zu ersparen. Fünf Jahre lang hatte Ma Long nicht mehr gegen einen nicht-chinesischen Kontrahenten verloren.

Und so war Boll, im Odenwald daheim und bei Borussia Düsseldorf aktiv, schon vor dem Endspiel gegen Ovtcharov entsprechend gerührt und ergriffen gewesen. Denn genauso, wie er die Momente der Medaillengewinne bei Olympia und Weltmeisterschaften für immer in Erinnerung behält, so wird er dies auch bei jedem einzelnen Triumph über die nur äußerst selten bezwingbaren, robotergleichen chinesischen Profis tun. "Es ist verrückt, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll", wirkte Boll nach dem Sieg über Ma Long wie berauscht. "Ich bin 36 Jahre alt und hätte so etwas gar nicht mehr für möglich gehalten."

© SZ vom 23.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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